Yamaha spannt Ducati-Ingenieur aus – 2020 die Wende?
Viñales jagt Miller, Yamaha den Ingenieur des Pramac-Ducati-Piloten
Wissen ist Macht, heißt es. In der MotoGP-WM trifft das auch auf Handling, Bremsen, Traktion, Lebensdauer der Reifen und alles andere zu. Wenn man sich ein MotoGP-Rennen anschaut, beobachtet man eigentlich Hunderte der besten Techniker im Motorsport, die Vollgas arbeiten. Normalerweise sind es die schlausten Köpfe, die gewinnen, weil sie die besten Bikes bauen, sie am besten abstimmen und am besten fahren. In dem Sinn ist es mehr ein Rennen der Superhirne als der Motorräder.
Wenn ein Fahrer einen Markenwechsel vornimmt, sorgt das für Schlagzeilen, aber es gibt auch einen Konflikt auf einer weniger beachteten Ebene – dem Kampf um die besten Technik-Köpfe im Business.
Yamaha hat in diesem Krieg kürzlich einen Sieg eingefahren, als sie den Elektronik-Ingenieur Marco Frigerio von Ducati abgeworben haben. Der Hersteller aus Iwata litt in den vergangen zwei miserablen Jahren am meisten unter Elektronik-Problemen. Kann die Verpflichtung von Frigerio Valentino Rossi und Maverick Viñales endlich zurück an die Spitze führen? Das ist gut möglich.
Frigerio ist schon jahrelang in den Reihen von Ducati tätig und arbeitet aktuell als Elektronik-Ingenieur von Pramac-Fahrer Jack Miller. Im vergangenen Jahrzehnt war Frigerio für die Ducati-Teams in der Superbike- und MotoGP-WM im Einsatz. Es gibt also nichts, was er über die Hard- und Software von Magneti Marelli nicht weiß.
Als in der MotoGP-WM 2016 die Einheits-Elektronik von Magneti Marelli verpflichtend wurde, reagierten einige Hersteller schnell und holten sich Mitarbeiter von Magneti Marelli ins Haus – allen voran Ducati, immerhin haben die beiden Unternehmen schon jahrzehntelang zusammengearbeitet. Dazu kommt, dass ihre Hauptsitze in Bologna und Mailand nicht weit voneinander entfernt liegen.
Honda zog nach, denn in der ersten Saison mit Einheits-Elektronik verstand HRC, dass sie italienische Ingenieure brauchten, um die italienische Programmierung zu verstehen.
Yamaha wählte eine andere Herangehensweise: Die eigenen Techniker sollten die Geheimnisse der Magneti Marelli-Software entschlüsseln und so gleichzeitig die eigene Elektronik-Abteilung weiterentwickeln. Im Grunde ist das der Hauptgedanke hinter dem Rennfahren: Dinge zu lernen. Aber nachdem sie einige Jahre lang im Dunkeln getappt waren, wurde den Yamaha-Technikern klar, dass man die Philosophie verändern musste, um Spitzenergebnisse einzufahren.
Also holte Yamaha zunächst mit Michele Gadda einen Ingenieur, der schon mit Yamaha, Ducati und BMW in der Superbike-WM gearbeitet hatte. Gleichzeitig gelang es ihnen endlich, einen jungen Magneti-Ingenieur an Bord zu holen. Offensichtlich hat der Input dieser Köpfe – zusammen mit den neuen japanischen Elektronik-Ingenieuren, den Aufwärtstrend von Yamaha in den vergangenen Monaten angekurbelt.
Wahrscheinlich hofft Yamaha jetzt, mit der Unterstützung von Frigerio wieder an die Erfolge in den Zeiten vor der Einheits-Elektronik anschließen zu können: Von 2012 bis 2015 gewann Yamaha 30 MotoGP-Rennen. Seit 2016 waren es gerade einmal zwölf. Das mangelnde Verständnis des Magneti Marelli-Systems hat sicherlich einen großen Anteil an den Misserfolgen.
Ducati-Renndirektor Gigi Dall'Igna ist verständlicherweise erbost über den Wegggang von Frigerio zur Konkurrenz. Aber er sollte nicht vergessen, dass er selbst im Oktober 2013 für Ducati seinen ehemaligen Arbeitgeber Aprilia verlassen hat.
Diese Geschichten sind natürlich so alt wie der Rennsport an sich. In den 1950er-Jahren dominierte Gilera, dessen 500-ccm-Vierzylinder-Reihenmotor von den jungen italienischen Ingenieuren Piero Remor und Carlo Gianini designt worden war – und bemerkenswerter Weise immer noch die Grundlage für den heutigen Reihenmotor der Yamaha M1 und Suzuki GSX-RR darstellt.
Wie auch immer, das Handling der Gilera war schlecht. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit seinen Fahrern verließ Remor schließlich das Werk von Giuseppe Gilera in Arcore nahe Mailand und brachte die technischen Zeichnungen in das nahegelegene Gallarate – wo er anfing, für den Grafen Domenico Agusta und MV Agusta zu arbeiten.
Die auffallend ähnlichen MV-Agusta-Vierzylinder-Motoren sollten von 1958 bis 1965 acht 500er-Titel in Folge gewinnen.
Der Krieg um die schlauen Köpfe ging auch in den nächsten Jahren weiter: 1961 wollte Suzuki ihre Zweitakt-Bikes unbedingt zu Siegermaschinen machen, deshalb lockten sie den ostdeutschen MZ-Fahrer Ernst Degner an. Der brachte bei seiner Flucht aus der DDR viele Zweitakt-Betriebsgeheimnisse von Walter Kaaden mit – und nur ein Jahr später gewann Suzuki den ersten WM-Titel. Mehr als ein Jahrzehnt später kamen die geschmuggelten Technologien noch bei Barry Sheenes Titelgewinn auf der RG500 zum Einsatz.
Weniger weit zurück liegt der Fall von Warren Willing, der Yamaha für Suzuki verließ und die RGV500 praktisch in eine Yamaha YZR 500 verwandelte – und Kenny Roberts Jr. so den 500-ccm-Titel im Jahr 2000 ermöglichte.
Am meisten in Erinnerung blieb wohl der Wechsel von Jeremy Burgess, der mit seinem Fahrer Valentino Rossi nach 2003 von HRC zu Yamaha ging. Nach wenigen Testtagen fand er eine Lösung für die Handling-Probleme der YZR-M1 – und Rossi gewann auf Yamaha gleich das erste Rennen der Saison 2004 und den WM-Titel.
Wegen seiner Verbindung zu Superstar Rossi wurde Burgess der erste Superstar unter den Renn-Ingenieuren. Aber trotz seines wesentlichen Inputs betrug sein Gehalt nur ein Bruchteil der Gage des Fahrers. Nun gut, in der MotoGP-WM hat der Fahrer noch immer den größten Einfluss auf den Erfolg des Pakets.
Anders ist die Situation in der Formel 1, wo die Performance des Fahrzeugs wohl ausschlaggebender als das Talent des Fahrers ist. So werden etwa die Dienste von Star-Designer Adrian Newey so hoch eingeschätzt, dass er in Sachen Salär zu Recht auf Augenhöhe mit GP-Siegern und Weltmeistern liegt.
Keiner weiß, wie viel Frigerio bei Yamaha verdienen wird, aber es ist sicher mehr als bei Ducati. Es wird spannend zu beobachten, ob sich die Macht des Wissens 2020 auf die Ergebnisse von Rossi, Viñales, Quartararo und Morbidelli niederschlägt.