Formel 1: «Dumme Regel half Verstappen»

Anthony West gegen die FIM: Er verzapft nur Unsinn

Von Günther Wiesinger
Anthony West wird es schwerfallen, für seinen Rundumschlag gegen FIM und Dorna handfeste Beweise vorzulegen. Den Vorwürfen der Korruption fehlt jede Grundlage.

Anthony West ist von allen guten Geistern verlassen worden. Man würde sich wünschen, dass der ehemalige Weltklassefahrer endlich professionelle ärztliche Hilfe bekommt. Denn schon vor einem Jahr äußerte er auf Facebook Selbstmordgedanken. «Die FIM hat mein Leben zerstört. Sie haben mich in eine Depression gestürzt, sie ging so weit, dass ich mir gewünscht habe, ich würde sterben.»

West drehte endgültig durch, als ihn der Motorradweltverband FIM wegen des zweiten Dopingvergehens 2018 und 2019 auch für die von ihm bestrittenen Rennserien in Thailand und Brasilien sperrte.

Denn auch nationale Meisterschaften werden von Verbänden überwacht, die Mitglieder der FIM sind. Und ein gesperrter Rennradfahrer oder Leichtathlet darf auch in keine nationale Meisterschaft ausweichen.

Während seiner illustren Karriere, in welcher Anthony West in fast jeder WM-Klasse auf der Rundstrecke am Start war, ging der Australier zweimal den Dopingfahndern der FIM ins Netz. 2012 wurden bei ihm in der Moto2-WM in Le Mans mysteriöse Nahrungsergänzungsmittel aufgespürt. Im September 2018 wurde er erneut erwischt. Welche verbotenen Substanzen er nahm, wurde nie öffentlich gemacht. Es war von Drogenmissbrauch die Rede

West sieht in seiner Verurteilung eine Hexenjagd: «Die FIM erfindet ihre eigenen Regeln. Der Richter, der mich verurteilte, kommt aus Indien und studierte Eigentumsrecht – er hat keine Ahnung vom Sport. Er war nicht neutral und stand auf der Seite der FIM. Das ist der gleiche Richter, den ich schon 2012 hatte. Er kann nicht mal Englisch. Es ist offensichtlich, dass die FIM diesen Typen bezahlte, damit er nach ihrem Willen entscheidet. Im normalen Strafrecht ist es niemals erlaubt, dass derselbe Richter über die gleiche Person in zwei verschiedenen Verfahren urteilt.»

Dass der Schreiber dieser Zeilen kein fanatischer Anhänger der FIM ist, hat sich herumgesprochen. Aber die Vorwürfe von West gegen die FIM und die Dorna sind an den Haaren herbei gezogen. Die Funktionäre hatten weder mit dem «quick shift system» von Marc Márquez in der Moto2 im Jahr 2012 etwas zu tun, diese Ungereimtheit kam damals erst nach dem Titelgewinn von #93 ans Tageslicht, noch mit der Rossi-Reifengeschichte.

Heute kann man sagen. Das Márquez-Team hat 2012 eine Lücke im Technik-Reglement ausgenützt. Ob er sich damit Vorteile verschafft hat, ist schwer zu beurteilen. Manche Experten bezweifeln es.

Mit den Michelin-Reifenlieferungen an Rossi hatten weder Dorna noch FIM irgendetwas zu tun. Michelin genoß auf dem Höhepunkt des MotoGP-Reifenkriegs gegen Bridgestone 2007 und 2008 den geografischen Vorteil, dass ihre Rennreifen mitten in Europa in Clermont-Ferrand gebacken wurden. Manchmal wurden nach dem Freitagtraining mit den Infos des ersten Trainingstages über Nacht noch neue Mischungen erzeugt und dann mit einem Kleinlaster zu erreichbaren GP-Strecken wie Assen, Le Mans, Catalunya und sogar Mugello und Jerez gekarrt. Ob irgendwann auch ein Privatflugzeug zum Einsatz kam – möglich ist es.

Aber diese neuen Reifen bekamen fürs Quali nicht nur Rossi, sondern auch die Werksfahrer von Honda und allen anderen Herstellern, die im jeweiligen Jahr von Michelin beliefert wurden.

Und: Michelin hatte 2007 zum Beispiel in Laguna Seca gegen Bridgestone fürchterliche Mühe, Rossi wurde als Vierter bester Michelin-Fahrer. Es konnten aber für Samstag oder Sonntag aus Frankreich keine neuen Reifen angeliefert werden...

Und 2008 fuhr Rossi bereits Bridgestone. Es gab also keine Luftbrücke mehr. Er wurde trotzdem Weltmeister.

Michelin hätte es sich zum Beispiel 2007 nie leisten können, den weltgrößten Motorradhersteller gegenüber Rossi zu vernachässigen und zu brüskieren.

Ducati hatte 2005 und 2006 als einziges Werksteam einen Exklusiv-Vertrag mit Bridgestone. Die Japaner belieferten viel weniger Fahrer. Wests Landsmann Casey Stoner hatte deshalb 2007 bis zu 400 Reifen pro Weekend zur Auswahl.

Haben das auch die angeblich korrupten FIM-Funktionäre veranlasst, lieber Anthony? Dann hätten sie womöglich auch Caseys Titelgewinn mit Ducati 2007 auf dem Gewissen?

Marc Márquez 2012: Das Hickhack um das TSR-System

Anthony West sprach auch die Geschichte mit dem Schaltautomaten von TSR am Motorrad von Marc Márquez an. Richtig, dieses Thema kochte im Herbst 2012 einige Wochen lang hoch.

Es ging um die Frage: Vernachlässigte Einheitsmotoren-Lieferant Honda in der Saison 2012 die Chancengleichheit in der Moto2-WM, um dem neuen HRC-Liebling Marc Márquez eine Gefälligkeit zu erweisen?

Die Diskussion über die Schaltautomaten («quick shift system») in der Moto2-WM zog weite Kreise. Etliche gegnerische Teams hatten sich über manche Darbietungen von Marc Márquez gewundert, die sie mit überragender Fahrkunst und geringem Körpergewicht allein nicht zu erklären konnten. Heute weiß man: Márquez ist ein Außerirdischer.

Nach Gesprächen mit HRC-Vizepräsident Nakamoto, Teambesitzern, Technikern und Elektronikern stellte sich 2012 eine seltsame Situation dar. Klar, ein Schaltautomat war in der Moto2-WM erlaubt. Die Honda Racing Corporation hat damals als Lieferant der Einheits-ECU (electronic control unit) für das Motoren-Management für rund 2500 Euro ein System mit programmierbarer Berechnungszeit für die verschiedenen Gänge angeboten. Die Firma HM offerierte ein recht einfaches System, mit einer fixen Unterbrechungszeit für alle Gänge.

Plötzlich trat der japanische Chassis-Hersteller TSR Mitte 2011 mit einem «quick shift system» auf, das den Teams angeboten wurde, aber anfangs nicht wunschgemäss funktionierte.

Ausgerechnet das Spitzen-Team um Márquez entschied sich, diesen Schaltautomaten mit TSR exklusiv weiterzuentwickeln. Manche Gegner waren sich später einig, dass der Spanier 2012 dadurch einen Vorteil genoss.

Man würde jetzt erwarten, dass sich HRC nicht ins Handwerk pfuschen lassen wollte und sein Produkt forcierte. Nichts dergleichen geschah. Gegnerische Teams, die mit Honda nicht viel am Hut haben, wurden hellhörig. Wieso bietet ein japanischer Chassis-Hersteller wie TSR plötzlich elektronische Hightech-Komponenten feil und kooperiert ausgerechnet mit jenem Team, dessen Fahrer bereits im Frühjahr 2012 einen Zwei-Jahres-Vertrag für die MotoGP-WM mit Repsol-Honda unterschrieben hat?

Dass TSR sehr enge Bande zu HRC hat, war nie ein Geheimnis. Dieses Engineering-Unternehmen tunte für das Honda-Werksteam jahrelang die Motoren für das prestigereiche Acht-Stunden-Rennen von Suzuka und leitete dort die Werkseinsätze für HRC.

Honda hatte 2012 in der Moto2 als Lieferant der Einheitsmotoren eine heikle Aufgabe: Die Chancengleichheit musste gewährleistet sein. Viele Teams sahen eine schiefe Optik und warfen HRC vor, dem überragenden Márquez durch Gefälligkeiten geholfen und ihn so bei der (HRC-)Stange gehalten zu haben.

Andere Teams wie Marc VDS, Intact und Interwetten testeten das TSR-System im Herbst 2012. Einzelne Techniker meinten, man gewinne damit bis zu zwei Zehntelsekunden pro Runde.

HRC-Vice President Shuhei Nakamoto bestritt eine Bevorzugung von Marc Márquez, fühlte sich aber nach den kritischen Berichten von SPEEDWEEK.com sichtlich unwohl in seiner Haut. «Sind Sie Ingenieur oder ich», pfauchte er den investigativen SPEEDWEEK.com-Berichterstatter beim Australien-GP 2012 beleidigt an.

Dynavolt-Intact-GP-Techniker Jürgen Lingg ging damals davon aus, dass 2013 viele Teams den TSR-Schaltautomaten verwenden würden. «Aber die meisten sind dann wieder zu HM zurück gewechselt, der war einfach zuverlässiger», erinnert sich Lingg heute. «Jedenfalls sprangen beim TSR oft die Gänge raus, weil die Unterbrechungszeit einfach zu kurz berechnet war. Mich hat der TSR nie überzeugt. Wir sind deshalb wieder zu HM zurückgekehrt.»

«Das System von TSR war das erste, bei dem die Schaltunterbrechungszeit automatisch über die Software berechnet wurde», erklärt Lingg. «Vielleicht hat das TSR-System ein bisschen was gebracht. Aber zwei Zehntel scheinen mir reichlich... Der Marc war einfach besser als die Konkurrenz. Inzwischen ist das nichts Neues mehr…»

Dorna, HRC, Race-Director Mike Webb und Technical-Director Danny Aldridge wurden durch die SPEEDWEEK.com-Recherchen bei den Übersee-Rennen im Oktober 2012 hellhörig. Denn viele gegnerische Teams regten sich über diesen Alleingang des Repsol-Teams von Márquez auf, zumal in der Moto2 die technische Gleichbehandlung an erster Stelle steht. Deshalb sind Einheitsreifen, Einheitsmotoren, Einheits-ECU und Einheitsöl vorgeschrieben.

Die Konkurrenzteams mutmaßten sogar, das Márquez-Team könne mit dem TSR-System die Einheits-ECU außer Betrieb setzen und ein eigenes Motoren-Mapping hochladen. Ob das gelungen ist, ließ sich nie schlüssig nachweisen, weil die Technische Kontrolle den Lambdawert der Márquez-Motoren während der ganzen Saison 2012 nie überprüfte.

Die Dorna befand sich bei diesem Thema nie auf der Seite von HRC, Repsol oder Márquez. «Ich bin froh, wenn Stefan Bradl Weltmeister wird. Wir haben genug spanische World Champions», erklärte Carmelo Ezpeleta 2011. «Während der Moto2-Rennen schwenke ich die deutsche Flagge…»

Die Dorna stellte Nakamoto im Oktober 2012 sogar die Frage, ob es im Sinne des Reglements sei, wenn Honda für die Einheits-Elektronik ein quick-shift-system mitliefere, das Márquez-Team aber ein anderes verwende und dies bis zum Titelgewinn geheim halte.

Im Herbst wurde 2012 wurde vorübergehend sogar überlegt, das TSR-System für 2013 zu verbieten. Dieser Plan wurde jedoch über den Haufen geworfen. «2013 werden voraussichtlich viele Teams den TSR-Schaltautomaten verwenden», vermutete Dynavolt-Intact-GT-Cheftechniker Jürgen Lingg, der die Kalex für Sandro Cortese betreute. «Es müssen künftig alle exotischen Systeme beim Technical Director homologiert werden. Die wollen einfach den Schaltplan sehen.»

Offenbar hatte die Márquez-Mannschaft ein Schlupfloch im Reglement entdeckt – und es eiskalt ausgenutzt.

Aber ohne Hilfe von FIM und Dorna. Und da es sich um einen Graubereich handelte, verzichteten die gegnerischen Teams auf einen Protest. 

Einige von ihnen hatten ja das TSR-System im Frühjahr 2012 probiert – und dann wegen Kinderkrankheiten beiseite gelegt.

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