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Marc Márquez: Er pendelt zwischen Genie und Wahnsinn

Von Günther Wiesinger
Marc Márquez: Was bringt das Wochenende?

Marc Márquez: Was bringt das Wochenende?

In der beispiellosen Karriere von Marc Márquez dominieren die Phasen der fahrerischen Extraklasse. Aber der achtfache Weltmeister lässt manchmal den Verstand an der Box.

Marc Márquez hat in der Motorrad-Weltmeisterschaft schon oft das Unmögliche möglich gemacht. Schon in der Moto2-Klasse, als er 2011 in Phillip Island auf den letzten Startplatz verbannt wurde und Dritter wurde, in Valencia 2012 musste er sich wegen einer Strafe ebenfalls auf den letzten Startplatz stellen – und siegte auf nasser Fahrbahn trotzdem! Aber schon damals musste ihm die Rennleitung regelmäßig auf die Finger klopfen – und ihn dann auf den letzten Startplatz stellen, wegen Rempeleien oder Kollisionen im Training. 

Aus dem Stegreif fallen mir gar nicht alle Heldentaten des 27-jährigen Spaniers ein. Aber der Ausnahmerkönner erlitt 2015 im Silverstone-Warm-up bei einem Crash eine Schulterluxation und gab sich im Rennen gegen Jorge Lorenzo erst im Finish geschlagen. Er stürzte 2013 im FP1 in Mugello nach der Kuppe bei Start/Ziel mit 338 km/h, schrammte knapp an der Betonmauer vorbei und setzte sich im FP2 wieder ungerührt auf die Werks-Honda, mit ein paar Schrammen am Kinn. Dann platzte 2015 im Qualifying 2 in Austin/Texas sein Motor, er sprintete in die Boxengasse, schnappte sich in letzter Minute das Ersatz-Motorrad, legte eine Chaosrunde hin, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat – und fuhr Bestzeit. Die sechs Texas-Siege von Márquez auf der wohl schwierigsten GP-Piste im Kalender gehen in die Geschichte ein, genauso wie die zehn Siege bei den ersten zehn Rennen 2014.

Sechs MotoGP-WM-Titel und 55 GP-Siege in der Königsklasse mit insgesamt 94 Podestplätzen und 62 Pole-Positions in sieben MotoGP-Jahren, diese Bilanz spricht Bände.

Wir wissen aber seit Jahren, dass im Gehirn bei Marc Márquez offenbar kein Angst-Gen existiert, auch sein Selbsterhaltungstrieb scheint – von außen betrachtet – nicht sehr ausgeprägt zu sein.

Rund 30 Stürze pro Saison, unzählige und unbeschreibliche «Saves» bei Rutschern in brenzligen Situationen – Marc Márquez ist ein Grenzgänger, wie ihn die Motorrad-WM noch nicht erlebt hat. Er verschiebt die Grenzen der Physik, er tanzt mit Schräglagen bis 65 Grad um die Kurven und eilt von Sieg zu Sieg.

Der Katalane hat die Risikobereitschaft in der Königsklasse auf einem neuen Level befördert, er hat aber seinen Körper auch mit Muskeln gestählt, wie man sie sonst nicht einmal bei Zehnkämpfern sieht, er trainiert mehr mit Offroad-Motorrädern auf unberechenbarem Untergrund als jeder andere und wappnet sich bestmöglich für gefährliche Zwischenfälle.

Marcs Verbissenheit geht so weit, dass sich sein Umfeld im Winter 2018/2019 gezwungen sah, alle seine Trainingsmotorräder in ihre Eizelteile zu zerlegen, um ein unerlaubtes Fahrtraining zu verhindern – nach der ersten Schulter-Operation.

Marc Márquez bringt sich aber bei allem Talent und Können immer wieder in Situationen, in denen er jegliche Vernunft verliert und sich vom Adrenalin getrieben zu irrwitzigen Aktionen hinreißen lässt. So bekam er 2013 in Phillip Island die schwarze Flagge, weil er den vorgeschriebenen Pflichtstopp zum Reifenwechsel nicht erledigte.

Marc benahm sich auch 2015 in Sepang unsportlich, als er im Rennen seine Landsleute Pedrosa und Lorenzo unbehelligt flüchten ließ, seine eigenen Chancen nicht wahrnahm und sich in erster Linie bemühte, Rossis Titelgewinn zu verhindern.

2018 dreht er in Termas de Río Hondo durch, als er sein Bike am Startplatz abwürgte und dann dort zuerst gegen die Fahrtrichtung fuhr. Der Repsol-Honda-Star wurde zum Start aus der Boxengasse verbannt, er rempelte sich nachher wutentbrannt durchs halbe Feld – und kassierte in 40 Minuten drei Strafen. Weltrekord!

Irgendeine Art von Fehlverhalten wollte Marc auch am folgenden Wochenende in Texas nicht eingestehen.

Seither wirkte Marc gereifter. Er beendete 2019 immerhin 18 von 19 Rennen in den Punkten, genauer gesagt in den Top-2! Zwölf Rennen gewann er.

In der WM lässt Márquez seit Jahren alle anderen Honda-Fahrer alt aussehen. Auch Dani Pedrosa gewann 2018 keinen Grand Prix mehr, die Honda RC213V wurde immer mehr auf den kompromisslosen Fahrstil des Serien-Weltmeisters maßgeschneidert.

Von der Abgebrühtheit der letzten zwei Jahre war allerdings am Sonntag ab 14 Uhr in Jerez wenig zu sehen. Vom Samstag-Training (inklusive Sturz) wusste der Titelverteidiger, dass er für diese Piste nicht das beste Motorrad hatte. Trotzdem wollte er um jeden Preis gewinnen. Nach dem frühen Warnschuss in Kurve 3 mit dem 160-km/h-Ausritt in den Kies drehte Marc Márquez erst recht auf. Aber dass man bei 55 Grad Asphalttemperatur nicht ewig in jeder Kurve beim Bremsen 30 Meter auf einen Viñales wettmachen kann und die Reifen diese Strapazen nicht 25 Runden lang mitmachen würden, das leuchtete jedem TV-Zuschauer ein.

Das Ende in Kurve 3 entpuppte sich als spektakulär, und erstmals in seiner GP-Karriere und nach wohl 200 Stürzen kam Marc Márquez nicht mit ein paar Schrammen davon.

Ob sich das Team einen Gefallen tut, wenn es den frisch operierten Weltmeister am Freitag ins FP1 schickt, wird sich zeigen. Es gibt auch Überlegungen, ihn am Freitag noch zu schonen, weil das Set-up von Jerez 1 übernommen werden kann. Dr. Xavier Mir meint aber, Márquez könne womöglich erst in Brünn (7. bis 9. August) wieder fahren.

Wenn Marc vom Rennarzt grünes Licht bekommt und wenn er dann seinen Verstand benutzt, kann er am Sonntag vielleicht auf Platz 8, 10 oder 12 landen. Das wären kostbare Punkte, bei nur 13 WM-Rennen 2020.

Aber kann es Márquez mit seinem Naturell schaffen, seelenruhig im Mittelfeld zu gondeln, während Viñales, Dovi, Quartararo und Miller vorne um das Podest fighten? Es ist zu bezweifeln.

Es geht  nicht nur um die Vorherrschaft in der MotoGP-WM. Er muss auch seine Traumgage rechtfertigen, die von Ducati-Sportdirektor Paolo Ciabatt auf 15 bis 20 Millionen Euro im Jahr geschätzt wird.

Anderseits: Mick Doohan in Brasilien 1991, Valentino Rossi auf dem Sachsenring 2010, Colin Edwards in Silverstone 2011, Jorge Lorenzo in Assen 2013 (zwei Tage nach der Schlüsselbein-OP), Marc Márqez in Katar 2014 und Valentino Rossi in Aragón 2017 haben nach schweren Verletzungen und Knochenbrüchen schon wundersame Comebacks in der Königsklasse vorexerziert.

Márquez hat sein Mütchen letzten Sonntag gekühlt. Hoffen wir, dass er diesmal kühlen Kopf bewahrt.

Für die Weltmeisterschaft wäre es traurig, wenn der Hexenmeister nach dem FP1 zusammenpacken müsste.

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