Pit Beirer (KTM): «Die drei Siege kamen unerwartet»
Vor der MotoGP-Saison 2020 bemühten sich KTM-Firmenchef Stefan Pierer, Motorsport-Direktor Pit Beirer und Race Manager Mike Leitner, den Ball flach zu halten und die Erwartungen zu dämpfen. Man müsse regelmäßig und vermehrt einstellige Ergebnisse erzielen, lautete die Devise. Von Podestplätzen oder gar Siegen wollte öffentlich niemand reden oder träumen.
Denn Red Bull-KTM ging mit zwei Rookies (Binder und Lecuona) in die Saison. Wobei der Südafrikaner schon bei den Wintertests manchmal anklingen ließ, dass er auf Anhieb ein Top-Ten-Kandidat werden könnte. KTM eroberte dann drei MotoGP-Siege und mit Pol Espargaró fünf weitere Podestplätze, dazu mit Pol Espargaró (2) und Miguel Oliveira (1) immerhin drei Pole-Positions. Und Rookie Binder gewann gleich sein drittes MotoGP-Rennen (in Brünn) und sicherte sich dazu den begehrten Rookie-of-the-Year-Award.
Im Interview mit SPEEDWEEK.com spricht Pit Beirer über die Ursachen der erfolgreichen Saison 2020.
Pit, vor dem Saisonstart hat man gespürt, dass KTM die Erwartungshaltung nicht zu groß werden lassen wollte. Mit welchen Ergebnissen hast du nach den Wintertests insgeheim gerechnet?
Ich war nach den Test extrem positiv gestimmt. Ich wusste, dass wir bei den Rennen definitiv bessere Ergebnisse einfahren werden als bei den Tests. Das war eindeutig. Das war anhand der messbaren Rundenzeiten abzusehen.
Es war mir klar, dass es realistisch sein wird, regelmäßig einstellige Ergebnisse zu erzielen und bei einzelnen Grand Prix unter die Top-5 zu kommen.
Das habe ich auch jedem erzählt, der vielleicht daran gezweifelt hat.
Aber dass wir drei Siege einfahren, das hat meine Erwartungen übertroffen. Das war definitiv nicht auf der Wunschliste. Das war auf jeden Fall eine positive Überraschung in dieser Saison.
KTM hat in den vier Jahren immer wieder technische Neuerungen gebracht. In Jerez 2017 den Big-Bang-Motor, 2018 in Misano die gegenläufige Kurbelwelle, dann in Le Mans 2019 die Karbonschwinge, im November 2019 beim ersten Wintertest das neue Stahlchassis mit Viertakt-Profilen. Welche Komponente hat den größten Fortschritt bewirkt?
Wir dürfen nicht vergessen, die MotoGP-Klasse ist in den vier Jahren permanent schneller geworden, und jeder unserer Entwicklungsschritte war extrem wichtig und extrem notwendig. Nur waren das immer Schritte, die ein bisschen größer waren als die der Konkurrenz, weil wir gleichzeitig aufholen und Schritt halten mussten.
Darum war es so schwierig, den ursprünglich großen Rückstand wettzumachen. Normalerwiese muss man sich solche Meilensteine für den Modellwechsel am Jahresende aufbehalten. Wir haben aber alle Neuerungen sofort an die Strecke gebracht, weil wir wussten, wir müssen alles an die Strecke ranbringen, was nur irgendwie geht, um den Rückstand abzuknabbern.
Wenn ich 3 sec zu langsam bin und werde nur 1 sec schneller, kommt das in den Resultaten nicht so deutlich zum Vorschein.
Aber sobald ich in diese letzte Sekunde vorrücke, oder wenn ich nur noch sechs Zehntel zurückliege und dann zwei Zehntel finde, fahre ich plötzlich auf dem vierten statt auf dem achten Platz.
Natürlich sind jetzt die Erfolge von jedem kleinen Technik-Upgrade sichtbarer. Im vierten Jahr haben wir auch die Summe aller Lehren gesehen, die wir seit dem Projektstart gezogen haben. Wir hatten eineinhalb Jahre Vorbereitungszeit bis zum ersten Wildcard-Einsatz in Valencia 2016 mit Mika Kallio.
Es gab seither immer wieder Schritte, die uns bei der Rundenzeit vorwärts gebracht haben. Gleichzeitig gab es immer wieder einige Updates, die beim Testen nichts gebracht und uns nicht schneller gemacht haben.
Aber irgendwann wird halt die Technik-Truppe stärker, die Erfahrung wird größer, die Mannschaft wird besser. Irgendwann ziehst du dann alle passenden Fäden zusammen.
Testfahrer Dani Pedrosa hat dem Projekt im Frühjahr 2019 auch noch einmal richtig Schwung verliehen?
Ja, wir haben damals auch Wolfgang «Fewo» Felber zum richtigen Zeitpunkt ins MotoGP-Projekt reingebracht. Er ist zeitgleich mit Dani Pedrosa zur MotoGP-Truppe gestoßen.
Wir haben dadurch das Testteam noch einmal auf ein höheres Niveau gebracht. Das hat sich auch auf das Rennteam positiv ausgewirkt.
Wolfgang Felber war 2012 anfangs beim Moto3-Projekt dabei. Dann wurde er bei KTM mit anderen Aufgaben betraut?
Wolfgang Felber war früher Entwicklungsleiter war KTM. Aber als ehemaligen Rennfahrer hat es ihn immer zum Rennsport hingezogen. «Fewo» ist bei uns eine Allzweckwaffe. Er ist ein Ingenieur, der ein Motorrad von der Pike auf bauen kann.
Er hat mir zwischenzeitlich zum Beispiel geholfen, die WP-Abteilung auf Renntrimm umzugestalten. Er war bei Roger DeCoster in Amerika und hat mit uns gemeinsam Supercross-Fahrwerke entwickelt. Er hat das ganze WP-Suspension-Projekt auf die Beine gestellt. Davon zehren wir jetzt auch in der MotoGP und in anderen Serien im Tagesgeschäft.
Dann wollten wir auf der Straße eine Kundensportabteilung hochziehen, er hat sich also um die 300er-Supersport-WM gekümmert. «Fewo» hat immer wieder extrem schwierige Spezial-Projekte bekommen, an die sich kein anderer rangetraut hat.
Dann haben wir gemerkt, jetzt brauchen wir noch einen Ingenieur mit sehr viel Felderfahrung und Hausverstand für unser MotoGP-Projekt. Es war ein guter Schritt, ihn bei der Chassis-Entwicklung der RC16 miteinzubinden. Er ist jetzt gemeinsam mit Marco Bertolatti für die Chassis-Entwicklung zuständig.
Aber ich will die Erfolge jetzt auf keinen Fall auf eine Person reduzieren. Denn wir haben in drei Jahren viel gelernt und jetzt in allen Bereichen bewährte Spezialisten.
Das 2020-Motorrad war kein zufälliger Schnellschuss. Sondern wir verstehen das Motorrad jeden Tag besser, und wir haben es mit neuen Technologien zu tun. Es werden große Teile des Rahmens gedruckt. Man muss aber genau erkennen, wo will ich in den unterschiedlichen Bereichen hin mit der Wandstärke? Das ist ein laufender Prozess.
Gleichzeitig blicken wir nach vier Jahren auf einen großen Erfahrungsschatz. Wir sind jetzt auf manchen Strecken das vierte oder fünfte Rennen gefahren. Auf manchen Pisten waren wir schon 20 mal testen, und zwar bei Kälte und bei Hitze, bei nasser und trockener Piste.
Am Anfang haben wir überall bei Null angefangen.
Es ist eine Summe von 1000 Kleinigkeiten, die uns geholfen haben, den letzten Schritt zu machen.