Hervé Poncharal: «KTM wird 2021 viel Freude haben»
Das Tech3-KTM-MotoGP-Team von Hervé Poncharal hat in der vergangenen Saison nach 20 Jahren erstmals einen WM-Lauf in der Königsklasse gewonnen. Was dem Franzosen mit Yamaha von 2002 bis Ende 2018 nie gelungen ist, klappte mit KTM gleich im zweiten Jahr der Zusammenarbeit. Der selbstbewusste Portugiese erzielte in Portugal auch eine Q2-Trainingsbestzeit und schaffte nach 14 Rennen den Sprung auf den neunten WM-Gesamtrang.
Der zweifache Vizeweltmeister (2015/Moto3, 2018/Moto2) hatte schon beim Sepang-MotoGP-Test im Februar 2020 angekündigt, er habe die Absicht, die Saison als bester KTM-Pilot in der Tabelle zu beenden. Doch er musste am Ende dem WM-Fünften Pol Espargaró den Vortritt lassen, dem er jetzt ins Red Bull KTM Factory Team nachfolgt, wo er wieder auf seinen alten Kampfgefährten Brad Binder als Teamkollegen trifft – wie schon im Ajo-KTM-Team in den zwei kleinen GP-Klassen.
«Leider sind die zwei Jahre zwischen Miguel und Tech3 jetzt vorbei», bedauert Teambesitzer Hervé Poncharal im Gespräch mit SPEEDWEEK.com. «Er war ein außergewöhnlicher Fahrer für uns und wird natürlich immer ein Teil unserer Firmengeschichte sein. Denn Miguel hat uns den ersten MotoGP-Sieg beschert und dann sogar einen zweiten abgeliefert; das ist fantastisch.»
«Dazu kommt – er ist so ein netter Bursche! Man freute sich immer, wenn er am Dienstag an die Rennstrecke kam», schildert Poncharal. «Man verbringt ja am GP-Weekend viel Zeit mit einer Person. Mit Miguel war das sehr angenehm. Er ist ruhig, clever, freundlich, mit einem guten Humor gesegnet, und obendrein als Rennfahrer extrem fokussiert. Er weiß genau, was er will. Manchmal bin ich fast erschrocken, weil er sich so hohe Ziele gesteckt hat.»
Der Tech3-Teamchef verheimlicht nicht, dass er mit Oliveiras überragender Performance in Portimão nicht gerechnet hat – Quali-Bestzeit, Rundenrekord, Start-Ziel-Sieg. «So etwas kennen wir sonst nur von Marc Márquez. Aber Miguel war sich seiner Sache schon am Freitagabend sehr sicher. Nach dem Rennen sagte er mir: ‘Hervé, es war für mich unvorstellbar, diesen Grand Prix nicht zu gewinnen. Es gab nur den Sieg oder das Kiesbett.’ Ich habe es in seinen Augen gesehen: Er hatte nur das Ziel, auf die Piste zu gehen, alles zu geben und diesen Heimsieg heimzubringen. Miguel besitzt die nötige Hingabe und Entschlossenheit. Er hat für die nächsten zwei Jahre alle Voraussetzungen, um sämtliche Ziele zu erreichen. Du musst die Ruhe bewahren, du musst die Technik verstehen, du musst ein Spitzenfahrer sein, du musst mit deinem Team perfekt zusammenarbeiten. Miguel ist ein sehr kompletter Fahrer. Dabei hat er erst eineinhalb MotoGP-Jahre hinter sich, denn 2019 war er am Silverstone verletzt. Aber er ist bereit!»
Die Zusammenarbeit zwischen Poncharal und KTM ist 2019 nicht ganz problemlos verkaufen. Zuerst dauerte es bis zum Österreich-GP, bis Oliveira erstmals dasselbe Material wie Pol Espargaró bekam, er rettete dann beim Heim-GP mit Platz 8 die Ehre des österreichischen Herstellers. Dort kündigte KTM den Rückzug als Chassis-Lieferant aus der Moto2-WM an; Poncharals Tech3-Truppe musste erstmals in der Moto3 einsteigen. Dann machte ihm das Red Bull KTM Factory Team noch Brad Binder abspenstig, weil der Südafrikaner für 2020 die Lücke von Zarco füllen musste. Iker Lecuona war natürlich kein ebenbürtiger Ersatz. Und dann beförderte KTM noch Petrucci statt Oliveira für 2021 ins Tech3-Team.
Aber der 63-jährige Poncharal kennt seine Rolle als Betreiber des KTM-Kundenteams. Tech3 muss Nachschub für das Factory-Team aufbauen. Der Hersteller aus Österreicher bezahlt dafür die Gagen der Tech3-Fahrer. KTM verwöhnt das Satellitenteam mit dem aktuellsten Werksmaterial und steht nach dem Rückzug von Red Bull als Sponsor des Tech3-MotoGP-Teams auch für das Budget 2021 gerade. Die RC16-Maschinen von Petrucci und Lecuona werden ganz in KTM-Orange designt. Bei der «International Brand and Design Agency KISKA» in Salzburg wird an den letzten Details für den attraktiven Auftritt beim Sepang-Test gefeilt.
«Natürlich hätte ich 2020 gern Brad Binder neben Miguel Oliveira im Aufgebot gehabt. Aber leider hat sich durch die Situation mit Zarco ein kleines Chaos ergeben», blickt Hervé Poncharal zurück. «Was passiert ist, ist passiert... Ich habe immer Verständnis für die Entscheidungen von KTM gehabt, sie mitgetragen und unterstützt. Red Bull-KTM hat jetzt ein Dream Team mit Brad und Miguel. Das ergibt Sinn, das ist ein wunderbares Duo. Beide Fahrer sind pure Red Bull-KTM-Eigengewächse, seit bald zehn Jahren. Ich bin sehr stolz, dass ich Miguel jetzt dem Werksteam übergeben habe. Das wird eine sehr interessante Fahrerpaarung. Die beiden Jungs werden sich gegenseitig ordentlich pushen. Brad ist ein bisschen heißblütig, Miguel ist eher cool. Das wird eine starke Kombination. KTM wird mit den beiden Piloten viel Freude haben.»
«Ich habe als Teambesitzer schon mit vielen Herstellern zusammengearbeitet und mit ihnen große Erfolge errungen. Aber erst bei KTM habe ich eine Familie gefunden. Ich fühle mich dort als Familienmitglied. Das sage ich nicht, um mich einzuschmeicheln. Es ist einfach die Wahrheit. Bei allen anderen Werken habe ich mich nie als Teil der Familie gefühlt», blickt Poncharal zurück. «KTM-Chef Stefan Pierer, der als Unternehmer viele wichtige Dinge im Kopf hat, stand in der Box hinter mir, als Miguel beim Portimão-GP als Sieger über den Zielstrich gefahren ist. Er hat mich umarmt und Tränen in den Augen gehabt. Das war ein schöner Augenblick. Denn ich habe noch nie einen CEO einer Firma in meiner Box weinen gesehen. Da habe ich seine Leidenschaft für den Motorsport gespürt, aber auch seine Menschlichkeit. Wir betreiben ein Team, weil wir den Rennsport lieben. Gleichzeitig sehnen wir uns nach Menschlichkeit und dem Austausch von Gefühlen. Bei KTM besteht in dieser Hinsicht kein Mangel.»
Poncharal weiter: «Der MotoGP-Erfolg von KTM basiert auf dem Wissen der Ingenieure, auf der Performance des Werksteams und des Testteams, aber auch der Input und die Daten des Tech3-Teams samt unseren Fahrern sind hilfreich. Wir alle zusammen bilden eine großartige Familie. Und ich bin sehr stolz, Teil dieser Familie zu sein. Ich kann Stefan Pierer, Vorstand Hubert Trunkenpolz oder Pit Beirer und alle anderen jederzeit anrufen, wenn ich etwas auf dem Herzen habe. Sie sind für mich immer erreichbar. Zu jeder Zeit. Nach so einer Zusammenarbeit habe ich während meiner ganzen beruflichen Laufbahn gesucht. Jetzt habe ich sie gefunden.»