Motorrad-GP: Warum manche Fahrer arbeitslos wurden
Der Schweizer Jesko Raffin war für die Moto2-WM beim niederländischen NTS RW Racing Team unter Vertrag, fehlte aber die meiste Zeit wegen einer mysteriösen Viruserkrankung und chronischen Erschöpfungszuständen, das Comeback in Misano scheiterte, er blieb 2020 punktelos. Der 24-Jährige bekam keinen neuen Vertrag und bedauerte jetzt, dass sich im Motorrad-GP-Sport alles ums Geld dreht.
«Ich durfte da viel Schönes, aber auch Negatives erleben. Es geht wie in der Formel 1 einfach ums Geld, das ist auch kein Geheimnis. Du bist machtlos! Fährst du nicht konstant in den Top-10, musst du Geld bringen. Bringst du es nicht, gibt es 100 andere, die auf deinen Platz warten. Auf das lässt du dich von Anfang an ein. Willst du das nicht, dann gehe da nicht hin.»
Der Zürcher weiter: «Die Dorna hat nur beschränkt Interesse an Schweizern, sie wollen lieber Fahrer aus Indonesien oder Russland, wo das Geld herkommt. Lässt du dich auf das Spiel ein, musst du damit leben. Wenn du gute Resultate einfährst, hast du es ein wenig einfacher.»
Naja, es dreht sich in der Weltmeisterschaft sehr viel ums Geld, aber nicht alles. Es geht auch um den sportlichen Erfolg, und wenn dieser fehlt, rücken jungen Fahrer nach. Das ist in allen Sportarten so.
Ich kenne jetzt kaum einen Moto2-Fahrer, der noch Geld mitbringt.
Trotzdem: Wenn eine Moto2-Saison 1,5 oder gar 2 Millionen Euro pro Saison und Fahrer kostet, dann verlangen die Teams, die Sponsoren, die Teamvereinigung IRTA und das Selektions-Komitee Leistung.
Fällt mir ein besonders schneller Rennfahrer ein, der aus der Moto2-WM 2021 ferngehalten wird? Ja, der 28-jährige Japaner Tetsuta Nagashima hat 2020 bei den ersten zwei Rennen in Doha und Jerez im Red Bull Ajo-KTM-Team einen Sieg und einen zweiten Platz errungen. Er war WM-Leader, doch dann rutschte er auf den achten WM-Rang ab und bekam keinen Vertrag mehr.
Denn mit 28 Jahren zählt er nicht mehr zu den vielversprechenden Talenten, und mit den Top-5 der Moto3-WM (Arenas, Arbolino, Ogura, Raúl Fernandez und Vietti) rückte eine Handvoll vielversprechender Fahrer nach. Also muss bei den Älteren und Erfolglosen ausgesiebt werden. So funktioniert die freie Marktwirtschaft.
Haben wir von Nagashima ein Wort der Klage gehört? Nein, er hat sein Schicksal akzeptiert und wartet auf Angebote. Vielleicht taucht er irgendwann in der MotoE auf.
Jesko Raffin war immer ein Bezahlfahrer und ist schon nach der Saison 2017 aus der Moto2-WM gedrängt worden, weil er nur an 20. Stelle gelandet und nach dem zweiten Grand Prix zehn Rennen lang punktelos geblieben war.
Das Selektions-Komitee sprach ihm damals «mangelnde fahrerische Kompetenz» zu, als die Plätze für 2018 besiegelt wurden. Ein neunter Platz in Misano im September und ein vierter in Phillip Island kamen zu spät.
Klar, in der Schweiz existiert kein Grand Prix, dort sind Motorsport-Rennen verboten, Spanien leistet sich seit 2010 vier Grands Prix, dort sind viele Teams und viele Sponsoren zuhause, deshalb kommen neun MotoGP-Piloten von dort, sieben aus Italien, also 16 von 22.
Dovi verkaufte sich zu teuer
Auch Andrea Dovizioso hat keinen Vertrag für 2021 mehr bekommen, mit bald 35 Jahren, er hat 2020 noch einen Grand Prix gewonnen und ist WM-Vierter geworden.
Auch er beschwert sich nicht über das System.
«He priced himself out of the championship», sagte ein englischer Kollege. Er hat sich durch zu hohe Gagenforderungen aus der Meisterschaft befördert.
Denn «Dovi» und sein Manager verlangten bei KTM 4 Millionen Euro für 2021, als sich bei Ducati im Frühjahr 2020 die Trennung abzeichnete. das war mitten im Corona-Lockdown zu viel des Guten.
Jetzt fährt «Dovi» regionale Motocross-Rennen und hofft auf eine Rückkehr 2022.
Auch Tito Rabat hat nach sechs MotoGP-Jahren keinen Vertrag mehr bekommen, Crutchlow nach zehn Jahren. Und Lorenzo, Abraham, Smith, Redding, Bradl, Folger und Bautista erhielten in den letzten Jahren auch keine Stammfahrer-Verträge mehr, so lauten diese unbarmherzigen Gesetze in diesem Business. Auch Dani Pedrosa hörte nach der ersten sieglosen Saison 2018 nicht ganz freiwillig auf. Er musste für Lorenzo Platz machen.
Sie alle mussten für die neue Generation Platz machen – für Morbidelli, Rins, Mir, Quartararo, Bagnaia, Oliveira, Binder und so weiter.
Tom Lüthi: 2018 kein einziger MotoGP-Punkt
Auch Tom Lüthi beklagte sich oft über sein Schicksal als Schweizer Rennfahrer. Aber wer nur ein Moto2-Rennen im Jahr gewinnt und 30 Jahre alt ist, wird bei den MotoGP-Teams nicht mehr als neuer Marc Márquez gescoutet. Das hat nichts mit Jugendwahn zu tun.
Trotzdem bekam der inzwischen 34 Jahre alte Tom Lüthi für 2018 nach den zweiten Moto2-WM-Rängen von 2016 (hinter Zarco) und 2017 (hinter Morbidelli) für 2018 noch einen MotoGP-Vertrag bei Marc VDS-Honda. Doch der Schweizer kassierte das ganze Jahr keinen WM-Punkt und beschwerte sich gern, wenn SPEEDWEEK.com diese mangelhafte Performance erwähnte.
Fahrer wie Philipp Öttl übten nach dem GP-Abschied ebenfalls Kritik am rauen Klima im Paddock. Aber nach einer punktelosen Moto2-Saison 2019 und einem trostlosen zweiten Halbjahr 2018 hatte er bei KTM seinen Kredit verspielt.
Der GP-Sport ist die höchste Liga. Von der Supersport-WM wird in den Medien wenig Notiz genommen.
Sollen Medien die Misserfolge verschweigen?
Die Fahrer lassen sich bei Erfolgen selbstverständlich bejubeln. Sollen die Medien die Misserfolge verschweigen? Oder gleich den WM-Stand faken?
Niemand gibt gern Fehler zu, niemand übt gern Selbstkritik. Aber nicht immer sind nur die andern schuld. Manchmal sieht er sogar nach Realitätsverlust aus. Oder die Fahrer müssen den Teamchefs und Sponsoren irgendeine alternativive Wiurklichkeit vorgaukeln.
Wir wissen ja: Der Erfolg hat viele Väter, der Misserfolg ist ein Waisenkind.
Die beiden Intact-Kalex-Fahrer Tom Lüthi und Marcel Schrötter gingen 2020 mit Titelhoffnungen in die Moto2-WM. Sie landeten auf den Rängen 11 und 9. Das Duo schaffte nur einen Podestplatz.
Tom Lüthi eroberte bei den letzten vier Rennen 2019 zwei zweite und zwei dritte Plätze, den Titel verlor er um zwölf Punkte. 2020 kam er mit denselben Technikern über zwei fünfte Plätze in 15 Rennen nicht hinaus – im selben Team, mit demselben Bike, mit Einheitsreifen, mit Einheitsmotoren und Einheitsöl.
Den Unterschied müssen also der Fahrer und das Team ausmachen.
Jürgen Lingg, Teammanager von Liqui Moly Intact, hat die Fehler der letzten Saison analysiert. «Man muss sich zuerst auch einmal bewusst sein, wozu jeder unserer Fahrer fähig ist. Dann darf man die Erwartungen nicht zu hoch stecken. Und wenn es mal nicht so läuft, muss man ruhig und cool bleiben und analytisch weiterarbeiten.»
Die deutschsprachigen Fahrer jammern gerne über die Nachteile ihrer Herkunft, über das hierzulande oft triste Wetter, über den Mangel an Rennstrecken, über die Körpergröße, die Untätigkeit der Verbände und womöglich noch über die Unsterblichkeit der Maikäfer.
Ich halte fest: Wir freuen uns alle über Erfolge deutschsprachiger Rennfahrer, in allen Disziplinen.
Aber ich würde behaupten, die Entbehrungen von Fahrern wie Lüthi, Raffin, Aegerter und etlichen Deutschen haben sich bisher in Grenzen gehalten, wenn ich an die Mühen vergangener Jahrzehnte denke, an Fahrer wie Kneubühler, Ekerold, Mang, Cornu, Coulon und viele andere Privatfahrer, die ihre eigenen Teams betrieben und sich oft nicht einmal den Sprit für die Weiterfahrt zum nächsten WM-Lauf leisten konnten oder denen das Geld für eine zweite Portion Pommes Frites fehlte. «Wenn du hungrig bist, fährst du schneller», war das Motto von Ex-Weltmeister Jon Ekerold.
Und worauf basiert der Erfolg von Großverdiener Ken Roczen, der seit Jahren 5 Millionen Euro pro Jahr kassiert? Er ist schon mit 11 Jahren dauernd zu Motocross-Rennen nach Florida geflogen und gleich nach dem Gewinn der MX2-WM 2011 als 17-jähriger Teenager in die USA ausgewandert.
Österreich freut sich über Segel und Surf-Weltmeister, obwohl es keinen Zugang zum Meer gibt. Es existieren in der Schweiz, in Deutschland und Österreich höchst erfolgreiche Rennradprofis, die halt wegen der Witterung im Winterhalbjahr zum Training nach Zypern, Südspanien, Mallorca oder sonst wohin auswandern. Die Briten gewinnen eine Tour de France nach der andern und jammern nicht. Obwohl in Großbritannien das Wetter im Winter auch nicht so mild ist wie in Italien oder Spanien.