MotoGP heute: Zu schnell? Zu eng? Oder genau richtig?
Die Repsol-Honda von Pol Espargaró nach seinem Crash in Kurve 7
Abgesehen von Unterhaltung und Hedonismus muss der eigentliche Sinn des Rennfahrens darin bestehen, den kontinuierlichen Fortschritt zu suchen und zu finden, um letztendlich die Kunst des Motorradbauens stetig weiterzuentwickeln.
Ein Anspruch, der über all die Jahre erreicht wurde: Manchmal in großen Sprüngen, manchmal in Trippelschritten, aber immer vorwärts. Der mechanischen, elektronischen und finanziellen Nivellierung zum Trotz fallen die Rundenzeiten immer weiter, während die Top-Speed-Werte in die Höhe schnellen. So ist beispielsweise wahrscheinlich, dass der im März in Katar aufgestellte Rekord von Zarco und Ducati – die 362,4 km/h – schon in wenigen Wochen in Mugello geknackt wird.
Aber wann wird es zu viel des Guten?
Die Frage ist nicht gänzlich auf die leichte Schulter zu nehmen. 2021 gab es schon mehrere Episoden, die Bedenken hervorriefen. Erstes Unbehagen kam schon bei den ersten Saisonrennen in Losail auf, mit den engsten Top-15 der MotoGP-Geschichte (knapp über 8,9 Sekunden) und zumindest einem potenziellen Highspeed-Desaster mit glimpflichem Ende, als Jack Miller und Joan Mir zweimal aneinandergerieten. Diese schwelende Gefahr wurde in der Moto3-Klasse noch deutlicher, wenn 20 oder mehr im Windschatten in das Heck des jeweils anderen kriechen.
Bei einem Zusammenstoß, nahe am Topspeed, flog sogar Rodrigos Bremshebelschutz davon. Zum Glück machte der seinen Job, so knapp es auch war. Denn wenn der Honda-Pilot über den Lenker abgeworfen worden wäre, an der Spitze des Gedränges, dann hätten die Folgen für eine Handvoll Teenager, die noch gar nicht das Wahlalter erreicht haben, verheerend sein können.
In Jerez gab es dann noch mehr.
Einen Aspekt strich der Abflug von Marc Márquez hervor, als der gerade erst von einer neunmonatigen Verletzungspause zurückgekehrte Repsol-Honda-Star in Kurve 7 in die Airfences krachte. Es ist eine unübliche Stelle für einen Sturz. Im Vorjahr wurde dort, an zwei Rennwochenende in Folge, nur ein Crash verzeichnet. In diesem Jahr waren es dagegen fünf, an einem einzigen Wochenende – und alle fünf waren heftig. Die Kalex von Celestino Vietti wurde im Moto2-Warm-up sogar über die Airfences geschleudert.
Eine bislang vernachlässigte Tatsache wurde offenkundig: Die Streckenbegrenzung mag zwar mit Airfences geschützt sein, ist aber bedrohlich nahe dran. Und das ist auf die höheren Geschwindigkeiten zurückzuführen.
Jerez ist seit 1987 Bestandteil des Kalenders der Motorrad-WM. Der damalige Sieger Wayne Gardner fuhr auf seiner Honda NSR500 den Rundenrekord bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 136,7 km/h. 2021 erreichte sein Sohn Remy auf dem Weg zur Moto2-Pole 158,1 km/h. Und das in der Mittelgewichtsklasse. Beim MotoGP-Rundenrekord von Viñales aus dem Vorjahr waren es schon 164,8 km/h. Die Motorräder sind inzwischen also mehr als 20 Prozent schneller – die Auslaufzonen unverändert.
Dann Quartararo, den Unterarmkrämpfe um einen sicher geglaubten Sieg brachten. Kein Einzelfall. Es ist vielmehr bemerkenswert, wie weit das Armpump-Problem verbreitet ist: Allein in diesem Jahr ließen sich vor Quartararo schon Jack Miller und Iker Lecuona wegen des gefürchteten Kompartmentsyndroms operieren, Aleix Espargaró wird folgen – die Faszien, die die Muskeln umschließen, werden dabei aufgeschnitten.
Die typische Narbe auf dem Unterarm ist im Fahrerlager überall zu sehen – sowas wie ein Ehrenabzeichen. Oder zumindest ein Nachweis, dass man den unangenehmen Aufnahmeritus hinter sich gebracht hat.
Armpump ist ein temporäres Problem: Der überstrapazierte Muskel schwillt umhüllt von der einengenden Membran an, was zu Schmerzen und Taubheitsgefühl führt. Mit weniger als 30 Minuten Ruhe klingt es wieder ab. Ein einfacher chirurgischer Eingriff kann dem zuvorkommen, indem die Faszien der Länge nach aufgeschlitzt werden. Das kann aber wieder verheilen, was – wie in Quartararos Fall – in einer zweiten OP endet. Das Karpaltunnelsyndrom, das die Sehnen betrifft, ist dagegen schwieriger zu behandeln.
Beide waren einst eine Seltenheit. Warum diese Probleme nun immer häufiger auftreten, ist schnell erklärt: Die Reifen bieten mehr Grip, die Bremsen erlauben härtere Bremsmanöver (um die 2g Verzögerung). Das wiederum bedeutet eine große Belastung der Armmuskeln. Die ausgefeilte und fortschrittliche Fahrtechnik kombiniert heutzutage den präzisen Gaseinsatz mit hartem Bremsen und gleichzeitigem Einlenken.
All diese Probleme sind im Großen und Ganzen lösbar. Naja, bis auf das enge Rennfahren, dort wird sich das «Social Distancing» nie durchsetzen.
Die Geschwindigkeiten kann man aber verringern, den Reifengrip genauso. Es hängt alles von der Regulierung ab.
Eine maximal erlaubte Motorleistung, ein Reifen vom preisgünstigen lokalen Händler, mit einem maximal erlaubten Haftungskoeffizienten.
Oder noch einfacher, weil Regenrennen langsamer und somit sicherer sein müssten, permanente Bewässerungsanlagen auf allen Strecken. Als zusätzlicher Kostenpunkt für die Dorna. Die Katarer hatten sowieso noch nie etwas gegen das Geldausgeben.
Dann gibt es immer noch die Möglichkeit, Schikanen einzubauen. Oder Bremsschwellen.
Okay, das wird langsam dämlich. Noch dämlicher als das Spektakel der MotoGP-Stewards, die verzweifelt versuchen, die Moto3-Fahrer davon abzuhalten, im Qualifying den Windschatten zu suchen (als könnte man Flöhe hüten).
Es ist besser, den Fortschritt zu akzeptieren, frohlockend. Und mit dem Nervenkitzel der Angst zu leben, der einen als Zuseher auf dem Sofa begleitet.
Denn wenn man die tödlichen Unfälle als ultimatives Kriterium heranzieht, dann ist das Rennfahren am Ende des Tages jetzt viel sicherer als in den alten Tagen, als es zwar viel langsamer war, man aber davon ausgehen musste, dass es eine Handvoll Fahrer nicht bis zum Ende der Saison schaffen würde.