Valentino Rossi: Jetzt höchste Zeit für den Rücktritt
Der 42-jährige Valentino Rossi lässt sich nicht in die Karten blicken. Er ging in den letzten Wochen und Monaten auch seinen Rennfahrer-Kollegen aus dem Weg, er ließ sich am Freitag fast nie bei den Grand Prix um 18.30 Uhr bei den Meetings der «Safety Commission» blicken, auf deren Besuch er in der Vergangenheit nur in den seltensten Fällen verzichtet hat.
Er wollte damit lästige Fragen vermeiden, auch jene von alten Weggefährten wie Franco Uncini und Loris Capirossi, die dort Funktionen und Ämter ausüben. Bei WM-Vermarkter Dorna wurde im April sogar noch vermutet, Rossi werde während der Saison den Krempel hinschmeißen, wenn sich seine Performance und seine Ergebnisse bei Petronas-Yamaha nicht bessern. Aber der Italiener will nicht als Vertragsbrecher dastehen, und er will sich jetzt nach der Rückkehr der Zuschauer noch auf möglichst vielen Rennstrecken von seinen treuen Fans verabschieden.
Die Umstände hat er sich natürlich anders vorgestellt.
Man kann es drehen und wenden, wie man will. Der populärste Motorradrennfahrer der Gegenwart hat den richtigen Zeitpunkt für den Rücktritt klar verpasst, und zwar nicht um ein paar Wochen oder Monate.
Die Fakten sind bekannt. Der letzte Sieg liegt jetzt vier Jahre zurück (Assen 2017), der letzte Podestplatz gelang VR46 im Juli 2020 in Jerez, das letzte Top-Ten-Ergebnis im September 2020 in Misano.
Auch zahlreiche andere Superstars der Zweiradszene haben es nicht geschafft, am Höhepunkt ihrer Laufbahn aufzuhören. Aber zwölf Jahre nach dem letzten Titelgewinn noch in der Grand Prix Weltmeisterschaft aufzutreten, das hat kein Ausnahmekönner vollbracht.
Casey Stoner hat sogar einen radikalen Schlussstrich gezogen. Er hat 2011 für Repsol-Honda die WM gewonnen, dann noch einmal kräftig abkassiert und ca. sechs Monate nach dem Titelgewinn gleich im Mai 2012 in Le Mans seinen Rücktritt per Jahresende angekündigt.
Graziano Rossi: «Vale fährt, bis er 46 ist»
Valentino Rossi hat nach 2013 bei seiner Rückkehr zu Yamaha immer wieder durchblicken lassen, er werde jetzt den letzten Vertrag unterschreiben. Irgendwann scherzte sein Papa Graziano im Hinblick auf die Startnummer: «Valentino fährt, bis er 46 Jahr alt ist.»
Der Yamaha-Werksfahrer hat die Saison 2019 noch als Gesamtsiebter beendet, er hat damals im April in Argentinien und Texas zwei starke zweite Plätze errungen. Aber 2020 erfolgte der Absturz auf WM-Rang 15. Nach Platz 4 in Misano folgten sechs Nuller in Serie (dreimal wegen Corona-Infektion).
Die Verhandlungen wegen des Vertrags bei Petronas-Yamaha zogen sich zäh über viele Monate hin.
2021 wurde Rossi erstmals in seiner Karriere in ein MotoGP-Kundenteam abgeschoben. Sein Platz im Werksteam wurde für Fabio Quartararo benötigt.
Doch die Misere begann bereits vorher, als er in der MotoGP-WM von seinen VR46-Zöglingen Morbidelli und Bagnaia gedemütigt wurde. 2021 kam noch sein Bruder Luca Marini hinzu, der als Rookie 2021 und Yamaha-Privatfahrer bisher nur drei Punkte weniger eingesammelt hat als die berühmte Nummer 46.
«Das war nicht das eigentliche Ziel der Academy, dass mich dann die eigenen Fahrer in der MotoGP-Klasse besiegen», scherzte Rossi schon 2019.
Die Talente waren zu rasch durch die Klassen hochmarschiert – und Rossi hatte den geeigneten Zeitpunkt zum Aufhören verpasst.
Rossi muss in diesem Jahr die schlimmsten Startplätze seiner GP-Karriere (sie begann in Shah Alam 1996) hinnehmen und die übelsten Rennergebnisse. Dass er außerhalb der Punkte ankommt oder stürzt, ist keine Seltenheit mehr.
Der Ruhm bröckelt, es fällt Glanz ab von der Statue des großen Meisters, der ganze Generationen von Rennfahrern überlebt ab. Vale kämpfte schon gegen Jorge Martinez, gegen Capirossi, Biaggi, Gibernau, Melandri, Biaggi, Stoner, Lorenzo, Márquez und jetzt gegen Viñales und Quartararo, Miller, Zarco oder Morbidelli.
Die letzten zwei Jahre verzeihen wir Rossi gerne
Ich habe nie ein Geheimnis aus meiner Bewunderung für Valentino Rossi gemacht. Der charismatische 115-fache GP-Sieger und neunfache Weltmeister war und ist ein Geschenk für jeden Berichterstatter. Die Fans himmelten ihn auf der ganzen Welt an – und sie tun es immer noch.
Jahrelang habe ich egoistisch gehofft, dass Rossi der GP-Welt als Rennfahrer weiter erhalten bleibt.
Denn er hat sich nach Rückschlägen (selbst nach den zwei Ducati-Jahren) immer wieder an die Spitze gekämpft.
Jetzt glaube ich nicht mehr daran. Und den All-time-Rekord von Agostini mit 122 GP-Siegen kann er auch nicht mehr übertrumpfen.
Valentino hat sein ganzes Leben im Rennsattel verbracht. Die letzten zwei Jahre verzeihen wir ihm gerne.
Aber ein drittes Jahr mit solchen Leistungen sollte sich der Gute nicht antun.
Die Bilanz von Rossi in der Königsklasse
2000: WM-2. auf Honda 500, 209 Punkte, zwei GP-Sege
2001: WM-1. auf Honda 500, 325 Punkte, elf Siege
2002: WM-1. auf Honda 990, 355 Punkte, elf Siege
2003: WM-1. auf Honda 990, 357 Punkte, neun Siege
2004: WM-1. auf Yamaha 990, 304 Punkte, neun Siege
2005: WM-1. auf Yamaha 990, 367 Punkte, elf Siege
2006: WM-2. auf Yamaha 990, 247 Punkte, fünf Siege
2007: WM-3. auf Yamaha 800, 271 Punkte, vier Siege
2008: WM-1. auf Yamaha 800, 373 Punkte, neun Siege
2009: WM-1. auf Yamaha 800, 306 Punkte, sechs Siege
2010: WM-3. auf Yamaha 800, 233 Punkte, zwei Siege
2011: WM-7. auf Ducati 800, 139 Punkte, kein Sieg
2012: WM-8. auf Ducati 1000, 163 Punkte, kein Sieg
2013: WM-4. auf Yamaha 1000, 237 Punkte, ein Sieg
2014: WM-2. auf Yamaha 1000, 295 Punkte, zwei Siege
2015: WM-2. auf Yamaha 1000, 325 Punkte, vier Siege
2016: WM-2. auf Yamaha 1000, 249 Punkte, zwei Siege
2017: WM-5. auf Yamaha 1000, 208 Punkte, ein Sieg
2018: WM-3. auf Yamaha 1000, 198 Punkte, kein Sieg
2019: WM-7. auf Yamaha 1000, 174 Punkte, kein Sieg
2020: WM-15. auf Yamaha 1000, 66 Punkte, kein Sieg
2021: WM-19. auf Yamaha 1000, 17 Punkte, kein Sieg