Denkstoff: Die außergewöhnliche Viñales-Affäre
«Ich bin ein Kämpfer.» Das war die rührendste Bemerkung in der demütigen (man möchte fast sagen unterwürfigen) Entschuldigung von Maverick Viñales, der beim Österreich-GP an die Seitenlinie verbannt wurde, nachdem er eine Woche zuvor einen viel diskutierten Versuch unternommen hatte, seinen Yamaha-Motor in die Luft gehen zu lassen.
Viñales kroch öffentlich bei Yamaha zu Kreuze und erklärte, dass seine Emotionen an einem schwierigen Nachmittag überhandgenommen hatten: Im ersten Rennen legte er noch gut los, aber nach drei Runden kam die rote Flagge. Beim Re-Start jagte ein Desaster das nächste – zum Start aus der Boxengasse gab es noch einen Long-Lap-Penalty oben drauf. Der Frust lief über.
Seine reumütige Entschuldigung war nicht genug, der Bruch mit jenem Team, für das er in viereinhalb Jahren acht MotoGP-Siege feierte, nicht mehr zu kitten. Der Vertrag wurde mit sofortiger Wirkung aufgelöst. Als Viñales seine M1 direkt in der Box abstellte, anstatt noch die Ziellinie des Steiermark-GP zu überqueren, war also auch sein letzter Rennauftritt als Yamaha-Werksfahrer beendet.
Eine weitere unerwartete Wendung in einer außergewöhnlichen Saga.
Außergewöhnlich, weil der frühere Moto3-Weltmeister und 25-fache GP-Sieger in dieser Saison sehr schwankende Ergebnisse ablieferte: Er gewann den Auftakt in Doha, stand in Assen auf der Pole-Position und als Zweiter auf dem Podest – und bildete auf dem Sachsenring oder beim Steiermark-GP das Schlusslicht.
Außergewöhnlich, weil er sich dazu entschloss, vorzeitig aus dem eigentlich über zwei Jahre bis Ende 2022 laufenden Yamaha-Vertrag auszusteigen.
Außergewöhnlich, weil sein langjähriger Vertraute und Crew-Chief Esteban Garcia (von Viñales auserwählt, nachdem sie in der Moto3 zusammengearbeitet hatten) den Preis schon bezahlt hatte, als er vor dem Catalunya-GP kurzerhand fallen gelassen wurde.
Und außergewöhnlich, weil er kaum davon ausgehen konnte, dass sein absichtliches Überdrehen und der «emotionale Sturm» unbemerkt bleiben würden, bei all den Onboard-Kameras und dem Daten-Monitoring.
Es gibt einen Präzedenzfall. 1993 feuerte das Lucky Strike Suzuki Team John Kocinski, der beschuldigt wurde, seine 250er auf einer Auslaufrunde in Assen absichtlich zerstört zu haben. Das setzte einem zunehmend zerrütteten Verhältnis ein jähes Ende.
Das war damals aber anders. Der ehemalige 250er-Champion Kocinski gab nichts zu, genauso wenig entschuldigte er sich. Er bestritt die Vorwürfe wiederholt. Im Zuge der Suspendierung von Viñales erklärte ein Tweet (offenbar von einem Fan, nicht von ihm selbst), dass das Motorrad in der Auslaufrunde stehen geblieben war, weil die Kette vom Kettenrad gesprungen war. Er parkte es also und ging davon. (Er mag – auch wenn das nicht erwähnt wurde – dabei den Motor lautstark aufheulen haben lassen. Oder vielleicht ist es auch von alleine passiert, weil die Kette verschwunden war.)
Zu der Zeit schrieb ich Pressematerial für das Team und ich werde Kocinskis Aufrichtigkeit an diesem Abend nie vergessen, als er mir gegenüber beteuerte: «Ich habe dem Motorrad keinen Schaden zugefügt. Ich habe in meinem Leben noch nicht einmal einen Tank geboxt.» Er war so unnachgiebig, dass ich ihm Glauben schenken wollte – und es immer noch tue.
Aber Teamchef Hervé Poncharal (heute IRTA-Vorsitzender, Tech3-KTM-Boss und ein pfiffiger Funktionär) bestand genauso darauf, dass John den Motor absichtlich in die Luft gejagt hatte. Es gab noch keine Onboard-Elektronik, die ein für alle Mal die Wahrheit ans Licht gebracht hätte.
Um ehrlich zu sein, diese Suzuki 250 war ein bisschen – mmh – primitiv, im Vergleich zur herausgeputzten Konkurrenz, und es gab eine Grundlage für Johns wachsende Unzufriedenheit und Kritik. Das aber passte schlecht zu einem prestigeträchtigen Team und Hersteller, der mit Kevin Schwantz den 500-ccm-Titel gewann. Es kam ihnen ganz ohne Zweifel recht, einen Vorwand zu haben, um ihn loszuwerden.
Genauso wenig erfreute sich Yamaha – mit Fabio Quartararo auf Erfolgskurs – am launischen Schmollen des Spaniers Viñales, wie etwa bei den Feierlichkeiten zum Doppelsieg in Assen, die er bockig boykottierte. Wie Kocinski hat auch Viñales eine Geschichte. Als er sein Moto3-Team 2012 wegen mangelnder Unterstützung für ein Rennen verließ, um sich dann ebenfalls öffentlich entschuldigen zu müssen.
«Launisch» ist eine andere Art, um auf «geistige Gesundheit» zu verweisen – ein Thema, das in der Welt von Spitzensportlern alles andere als unbekannt ist, wie zuletzt Olympia-Turnerin Simone Biles oder Tennis-Star Naomi Osaka aufzeigten. In den meisten Fällen erfuhren sie dafür Unterstützung, wenn auch nicht überall.
Es gibt noch einen anderen Blickwinkel. All diese Leute (inklusive Viñales) haben einen Traumjob. Sie sollte sich damit abfinden und still sein. Den Ärger am Team oder dem Equipment auszulassen – das ist einfach unverzeihlich.
Es gibt hier viel Stoff zum Nachdenken. Ich glaube, Yamaha hatte eine Chance, dem in Schwierigkeiten steckenden Fahrer realitätsnahe und verständnisvolle psychologische Unterstützung anzubieten. Dasselbe gilt für die MotoGP.
Das Motorrad hat einen Drehzahlbegrenzer, es lässt sich nicht so einfach kaputtkriegen. Sollten wir uns nicht um die Fahrer kümmern und es die Maschinen aushalten lassen?
Dann gibt es noch einen Aspekt: Unter der Krise eines Tennisspielers oder eines Turners leiden nur die Sportler persönlich. Eine Krise wird jedoch zum potenziellen Risiko, wenn man mitten unter Mitstreitern auf einem 360 km/h schnellen MotoGP-Bike um die Strecken flitzt.
Vielleicht hatte Yamaha nicht wirklich eine Wahl. Viñales musste gehen.
Jetzt wird sich Aprilia um die Launen von Viñales kümmern müssen.