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Sensation: Kalex baut Honda-Chassis für Marc Márquez

Von Günther Wiesinger
Immerhin der Motor kommt noch aus Japan. Aber die einst ruhmreiche Honda-Rennabteilung wartet nach vielen Fehlschlägen jetzt auf das erste MotoGP-Chassis von Kalex. Das kommt einer Bankrottererklärung gleich.

Es ist ein bisschen mehr als drei Jahre her, seit das Dilemma bei der Honda Racing Corporation seinen Anfang nahm. Damals entrümpelten Ende Februar 2020 Marc Márquez und Cal Crutchlow, die zwei besten Honda-MotoGP-Fahrer, nach zwei von drei Testabenden in Doha die Box von Taka Nakagami, denn der Japaner aus dem LCR-Team verfügte über taugliches 2019-Material, während sich das 2020-Gerümpel (Aerodynamik, Chassis) von Marc und Cal als unbrauchbar erwies.

Marc war schon beim Sepang-Test 2020 kaum in die Top-Ten gekommen. In Losail lag er nach zwei von drei Tagen mit 1,055 sec Rückstand auf Platz 14. Mit dem 2019-Material steigerte er sich am dritten Abend auf Rang 7 mit 0,292 sec Rückstand!

Seither dominiert bei HRC die technische Einfallslosigkeit. Bei der Aero-Entwicklung wurden zwei Jahre komplett verschlafen. Selbst Teamchef Alberto Puig erklärte im Juni, Honda sei in allen  Bereichen von der Elektronik bis zum Chassis im Rückstand.

Beim Chassis wünschte sich Marc Márquez schon 2019 eine Situation, die ihm helfen sollte, 30 bis 35 Stürze pro Jahr zu vermeiden beim Versuch, die Mängel des Fahrwerks durch grenzenlose Risikobereitschaft zu übertünchen.

Doch beim Mandalika-GP 2022 stürzte Marquez viermal – innerhalb von 48 Stunden. Dadurch fiel er zum dritten Mal der Diplopie anheim – der Doppelsichtigkeit.

Marc Márquez will Taten sehen

Honda gelang es drei Jahre lang nicht, das Chassis an die Erfordernisse der Michelin-Reifen anzupassen und die neuen weichen Reifen in der «time attack» optimal auszuquetschen.

Die vielen Stürze der Nummer 93 verliefen jahrelang glimpflich. Bis zum denkwürdigen 19. Juli 2020 in Jerez, dem verspäteten Saisonstart wegen des ersten Corona-Lockdowns.

Drei Jahre später: Marc Márquez hat bei den drei Wintertests die niederschmetternden Plätze 13, 13 und 14 eingesammelt. Der Rückstand auf Ducati hat sich bei 0,8 Sekunden eingependelt. Eine Weltreise. 

Alle Durchhalteparolen von Seiten des Superstars, der bei Honda ca. 15 Millionen Euro pro Jahr kassiert, wirken zunehmend unglaubwürdiger. Spätestens in Valencia im November 2022 hat der sechsfache MotoGP-Weltmeister erkannt, dass der 2023-Prototyp keine Anzeichen eines Sieger-Motorrads offenbart.

Dabei hatte Marc schon nach seinem zehnten Platz in Mugello 2022 von HRC endlich Taten verlangt und bei seinem Besuch beim Österreich-GP im August Klartext geredet. Er lobte damals die Entwicklungsgeschwindigkeit der europäischen MotoGP-Hersteller, er kritisierte die mangelnde technische Risikobereitschaft und die viel zu konservative Herangehensweise der Japaner.

HRC-Chef Shinya Wakabayashi reagierte. Der langjährige Technical Director Takeo Yokoyama wurde abgesetzt, an seine Stelle trat der bisherige Suzuki Technical Manager Ken Kawauchi, von dessen Qualitäten Marc Márquez bisher offenbar nicht überzeugt ist.

Um den Willen zur Veränderung zu demonstrieren, testete HRC beim Misano-Test am 6./7. September 2022 erstmals Schwingen von Kalex, dem deutschen Moto2-Seriensieger. Bei der Auspuffanlage vertraut Honda seit diesem Jahr auf den slowenischen Spezialisten Akrapovic. Das tun freilich auch alle anderen Firmen von Ducati über Yamaha bis zu KTM und GASGAS. Einzige Ausnahme: Aprilia.

Obwohl Honda seit drei Jahren in der Konstrukteurs-WM jeweils den sechsten und letzten Platz beschlagnahmte und sich ohnedies niemand für diese antiquierte Technik aus Japan interessiert, verschärften die HRC-Verantwortlichen ihre irrwitzigen Geheimhaltungsvorschriften. Die Teammitglieder dürfen mit den Medien nicht einmal übers Wetter reden, geschweige denn beim Sepang-Test verraten, ob auch die neue 2023-Schwinge von Kalex engineering in Bobingen stammt oder aus Japan.

Aber SPEEDWEEK.com brachte in Malaysia nach wenigen Minuten in Erfahrung: Kalex liefert auch in diesem Jahr die Schwingen für die RC213V.

Die HRC-Manager Kuwata und Kokubu sowie Puig konzentrieren sich trotz der Misere auf Nebenschauplätze und rätseln noch immer, aus welchen verlässlichen Quellen SPEEDWEEK.com 2022 vorzeitig die Neuigkeit über die vierte Oberarm-Operation von Márquez erfahren hat und dass er nach Mugello pausieren wird.

Vielleicht wäre es zielführender, wenn sich die Geheimniskrämer von HRC auf ihre Aufgabe konzentrieren und die Bikes schneller machen würden.

Dann müssten sie nämlich nicht die Schmach befürchten, dass der höchstbezahlte Mitarbeiter des Honda-Konzerns (17 Millionen verkaufte motorisierte Zweiräder im Jahr) nach dieser Saison trotz eines gültigen Vertrags für 2024 Reißaus nimmt.

Schon der dreifache MotoGP-Weltmeister Jorge Lorenzo hat nach der Saison 2019 frühzeitig den Krempel hingeworfen, trotz des Vertrags bis Ende 2020. Er agierte dann lieber als Yamaha-Testfahrer statt sich mit der für ihn hoffnungslosen Honda abzumühen, die nach seinem Geschmack zu stark für die Fahrweise von #MM93 maßgeschneidert war.

Kalex: Erstmals im MotoGP-Geschäft

Nach Bekanntwerden der Zusammenarbeit zwischen HRC und Kalex im vergangenen Herbst erkundigte sich SPEEDWEEK.com bei Kalex-Geschäftsführer Alex Baumgärtel im Oktober, ob seine Mannschaft jetzt ein komplettes Chassis für die RC213V ausbrüte.

«Ich kann zu Honda nichts sagen», erklärte Kalex-Geschäftsführer Alex Baumgärtel auf Anfrage von SPEEDWEEK.com vor fünf Monaten.

Denn er hatte bei HRC den üblichen Geheimhaltungsvertrag unterschrieben, auch als «non disclosure agreement» oder «letter of confidentiality» bezeichnet.

Aber Baumgärtel äußerte sich immerhin zu allgemeinen Fragen.

Er könne kein MotoGP-Chassis aus dem Ärmel schütteln, ließ er durchblicken, weil er noch nie eines konstruiert habe. Auf die Frage nach der Dauer vom Start so eines Projekts für Design, Entwicklung bis zur Fertigstellung ab dem Wort «Go!» bis zum ersten Roll-out, gab Baumgärtel keine klare Antwort. Ein Roll-out beim Sepang-Test im Februar 2023 schloss er strikt aus.

«Wie lange wir für ein MotoGP-Chassis brauchen würden, kann ich aus dem Stegreif nicht abschätzen», räumte Baumgärtel im Oktober 2022 ein. «Das hängt immer davon ab, wie gut die Kommunikation läuft. Da natürlich kein Werk einen kompletten Motor herausrückt, bekommt man nur Umgebungsdaten.»

Baumgärtel verhehlt nicht, dass ihn die Entwicklung von MotoGP-Fahrzeugen seit Jahren reizt. Er macht sich oft Gedanken über neue Geschäftsfelder für seinen Acht-Mann-Betrieb in Bobingen, der bei Holzer Motorsport angegliedert ist. Kalex ist deshalb auch in der Superbike-WM aktiv – mit Schwingen für das BMW-Werksteam.

«Ich kann echt nicht sagen, wie viel Zeit wir bis zum ersten Roll-out eines MotoGP-Bikes beanspruchen würden», offenbarte Baumgärtel im Oktober. «In der Moto2 haben wir vor der ersten Rennsaison 2010 ungefähr ein knappes Dreivierteljahr gebraucht. Wir haben im Februar 2009 begonnen. Bis zum Valencia-GP im November 2009 war das Motorrad fertig.»

Aber seither hat Kalex immens viel Know-how angesammelt, auch die Manpower ist tüchtig erhöht worden.

«Dafür habe ich damals auch mehr Zeit gehabt und bin nicht um die Welt gejettet, um auf allen Rennstrecken zu sein und unsere Kunden zu betreuen. Der Kalender mit den vielen Übersee-Rennen wird ja immer umfangreicher», wirft der Kalex-Chef ein.

Nach Recherchen von SPEEDWEEK.com hat HRC bereits vor dem verunglückten Valencia-Test vom 15. November 2022 bei Kalex den Auftrag zum Bau von Alu-Chassis-Varianten für die neue RC213V erteilt.

Und zwar, weil Marc Márquez nach den enttäuschenden Tests von Misano und Valencia «größere Schritte» verlangt hatte. «Wir brauchen nicht einen Schritt, sondern mehrere», hatte er betont.

Die bei Honda in Japan «In-House» produzierten Rahmen haben sich seit drei Jahre allesamt als Fehlschläge erwiesen.

Beim Sepang-Test 2023 hatte Marc zu seinem Ärger vier unterschiedliche Bikes in der Box, mit dem besten landete er an 13. Position. Rückstand: 0,777 sec.

In Portimão wurde wieder eine neue Chassis-Version mit veränderter Steifigkeit angeschleppt. Aber Márquez bemerkte keinen Fortschritt. HRC macht sich weiter lächerlich. 

In Malaysia erklärte Márquez nach drei Tagen mit saurer Miene: «Unser Motor ist stark genug, aber wir haben keine Traktion und erreichen deshalb den Top-Speed auf den Geraden später als die Konkurrenten. Deshalb können wir nicht überholen.»

Aber Marc Márquez muss sich noch gedulden. Nach unseren Informationen wird er das neue Kalex-Chassis erst am Montag (1. Mai) nach dem Jerez-GP erstmals ausprobieren und mit dem japanischen Chassis vergleichen können.

Testfahrer Stefan Bradl wird beim Jerez-GP (28. bis 30. April) mit einer Wild Card antreten. Er könnte den GP von Spanien mit dem Kalex-GP bestreiten und es für den Montag-Test für die Repsol-Asse Marc Márquez und Joan Mir abstimmen.

Marc Márquez hat mit Fahrwerken deutschsprachiger Bauart und Herkunft gute Erfahrungen gemacht: 2012 gewann er auf einer Suter MMX2 aus der Schweiz die Moto2-Weltmeisterschaft.

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