Reifendruck: Teams weiter uneinig, also keine Strafen
2023 sollte der Reifendruck in den MotoGP-Rennen vorn mit Beginn des Jerez-GP nur während 50 Prozent der Distanz unter 1,9 bar liegen, sonst würde es Strafen hageln. Aber die Inkraftsetzung der neuen Vorschriften verzögert sich offenbar bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. KTM-Techniker Ing. Risse erklärt die Problematik, die für die Teams entstanden ist.
Eigentlich sollten 2023 in der MotoGP-WM bereits nach drei Grand Prix drastische Strafen gegen alle Fahrer verhängt werden, die beim Druck im Vorderreifen die strengen Vorschriften nicht einhalten.
Aber weder in Jerez noch in Le Mans wurden im Qualifying oder in den beiden Rennen Sanktionen verhängt. Dabei war Danny Aldridge, der MotoGP Technical Director, im Februar beim Sepang-Test noch überzeugt, die neuen Einheits-Sensoren würden tadellos funktionieren, das elektronische Überwachungssystem sei ausgereift. Doch die Teams sind zum überwiegenden Teil anderer Meinung.
«Die Einführung der Strafen ist verschoben worden, bis wir exakt wissen, dass das System fehlerlos arbeitet», sagt Dorna-CEO Carmelo Ezpeleta. «Wir warten ab. Wir werden das System nicht in Kraft setzen, bevor wir nicht 100 Prozent sicher sind.»
Das Thema «tyre pressure» war beim Jerez-GP 2022 akut geworden, als ein Insider ausplauderte, dass Sieger Pecco Bagnaia dort während eines Großteils der Rennrunden unter dem vereinbarten Vorderreifendruck geblieben war. Doch die Werke und Teams hatten bei ihren klandestinen Sitzungen vereinbart, ein Auge zuzudrücken, weil jedes Werk und jeder Sensor-Lieferant unterschiedliche Reifendrücke zutage förderte.
Ducati Corse rüstet vier MotoGP-Teams und acht Fahrer aus. «Beim Druck im Hinterreifen haben wir keine Probleme», betonte Gigi Dall’Igna, General Manager bei Ducati Corse, im Gespräch mit SPEEDWEEK.com. «Hinten könne alle die empfohlenen Limits problemlos einhalten. Aber beim Vorderreifen entstehen große Unterschiede bei der Reifentemperatur und beim Reifendruck, die davon abhängen, ob du im Windschatten oder allein unterwegs bist. Wenn du auf der Piste hinter einem Pulk hängst, kommen riesige Unterschiede bei den Messwerten zustande.»
«Deshalb müssen wir handfeste Ergebnisse durch die Sensoren erhalten», ergänzte Dall’Igna. «Denn in der Vergangenheit wurden von den Teams und Werken unterschiedliche Sensoren verwendet, die zu abweichenden Ergebnissen geführt haben. KTM und Ducati hatten zum Beispiel unterschiedliche Sensoren, also konnten unterschiedliche Reifendrücke gemessen werden. Wegen der Sensoren, nicht weil der entsprechende Fahrer das Reifendrucklimit vorne unterschritten hatte. Jetzt haben wir ein gut geschriebenes neues Reglement und beginnen besser zu verstehen, ob die Situation am Vorderreifen vernünftig genug eingeschätzt werden kann, dass Strafen ausgesprochen werden können oder nicht. Wenn das System nicht perfekt funktioniert, besteht das Risiko, dass du einige Fahrer im Rennen disqualifizierst oder ihnen die schnellste Quali-Runde streichst, weil sie zu wenig Reifendruck im Vorderreifen hatten, obwohl es nicht ihre Schuld ist. Denn der Reifendruck hängt einfach stark davon ab, ob sie im Wundschatten fahren oder allein.»
Ganz so vertrauenswürdig wie erhofft ist das neue Reifendruck-Kontrollsystem bisher nicht. Deshalb wird die Inkraftsetzung der drastischen Strafen offenbar bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verzögert.
Risse (KTM): «Man kann nur begrenzt etwas machen»
In der MotoGP-Saison werden die Reifendrücke in den Vorderreifen mit Einheits-Sensoren von LDL überwacht. Doch bei den ersten drei Grand Prix wurden noch keine Strafen verhängt, wenn jemand das 1,9-bar-Limit unterschritt. Deshalb war beim Sepang-MotoGP-Test (von 10. bis 12.2.) auch die Kontrolle des Reifendrucks ein wichtiges Thema. Nach dem Jerez-GP 2022 war bekanntlich ans Tageslicht gekommen, dass einige Fahrer über den Großteil der Renndistanz das vorgeschriebene Mindestlimit von 1,9 bar am Vorderreifen fast pausenlos unterschritten hatten.
Michelin ist überzeugt, das könnte die Haltbarkeit des Reifens gefährden. Die Franzosen verlangen deshalb von den Teams und Motorradwerken eine genaue und sorgfältige Einhaltung des Mindestdrucks. Für 2022 wurden aber keine Strafen ausgesprochen, es wurde jedoch nach einer vernünftigen Lösung und verlässlichen Einheits-Sensoren für die Saison 2023 gesucht.
«Hauptsächlich geht es jetzt darum, wie man den Reifendruck schon in der Box einstellt und wie man den Reifen konditioniert, um am Ende auf der Strecke im erlaubten Fenster zu sein», erklärte Ing. Sebastian Risse, der bei KTM Factory Racing die Aufgabe des Technical Coordinators für MotoGP erfüllt, im Gespräch mit SPEEDWEEK.com. «Klar, wenn das Kind einmal in den Brunnen gefallen ist, kann man auf der Strecke mit dem Fahrer nur noch begrenzt etwas machen.»
«Es geht um den Mindestreifendruck vorne. Wenn der Reifendruck zu niedrig ist, haben die Michelin-Techniker Sorgen um die Sicherheit», ergänzte Risse. «Man muss über dem Limit liegen. Je schneller man fährt, desto mehr Reifendruck hat man. Und je mehr Windschatten man hat, desto mehr Reihendruck entsteht. Am Ende wird es keine 100-Prozent-Regel sein, doch bei den Rennen geht es darum, einen gewissen Prozentsatz der Rennzeit in dem erlaubten Fenster zu sein.»
Welcher Prozentsatz das sein könnte, steht noch nicht endgültig fest. Risse: «Bisher ist das noch eine provisorische Regulierung. Bei einem regulären Rennen geht es um 50 Prozent.»
Das Problem an der Geschichte: Die Techniker können den Reifendruck an der Box nach ihren Erfahrungswerten gewissenhaft einstellen. Aber sie können nicht vorhersagen, ob der jeweilige Fahrer nachher allein unterwegs sein wird oder in einer Gruppe, also im Windschatten.
«Ja, deshalb wird das ein ziemlich strategisches Spiel», weiß Sebastian Risse. «Wenn man Glück oder das Rennen so weit unter Kontrolle hat, dass man den Rennverlauf vorher abschätzen kann, hat man wahrscheinliche keine Probleme mit dieser Regelung.»
Werden bei KTM und GASGAS den Piloten die Informationen zum Reifendruck ins Dashboard geliefert?
«Das ist erlaubt. Man kann dem Fahrer zeigen, was man ihm zeigen möchte. Man könnte auch den Reifendruck einspeisen, wenn man das möchte», erklärte Risse. «Das ist dann die jeweilige Strategie von jeder Mannschaft mit jedem Fahrer, wie man was macht. Wenn der Fahrer zu viele Informationen bekommt, die er eh nicht ändern oder beeinflussen kann, helfen sie ihm auch nichts. Das verunsichert ihn nur.»
Es könnte ja auch der Fehlerteufel eine Rolle spielen.
«Selbst wenn der Reifendruck im Rennen zu oft unterschritten wird und er danach bei der Rückkehr an die Box von den Offiziellen kontrolliert wird, könnte passieren, dass der Sensor defekt ist», überlegt der KTM-Techniker. «Wenn ich also vorher den Fahrer nervös machen würde und er unter Umständen sogar das Rennen aufgibt, habe ich gar nichts davon», erläutert Ing. Risse. «Es muss bis zum Ende gepusht werden. Dann schaut man, was dabei rauskommt.»