Stewards: Vereinbarte Regeln über Nacht vergessen
Natürlich haben die Mitglieder des «FIM MotoGP-Stewards Panel» keine leichte Aufgabe. Denn jedes betroffene Team, jedes betroffene Werk und jeder betroffene Fahrer hat andere Ansichten, Eindrücke und Beobachtungen vom Geschehen. Und wir kennen ja das weise Sprichwort: «Allen Menschen recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann.»
«Die Stewards ruinieren den Sport», wetterte Alex Márquez, der wegen seines «überambitionierten Manövers» einen Grid-Penalty für Mugello bekommen hat, für den er kein Verständnis zeigte. Anderseits: Durch diesen Vorfall in Runde 1 des Frankreich-GP war Brad Binder auf Platz 18 zurückgeworfen worden.
Binder selbst war am Samstag im Sprint in der fünften Runde beim Nahkampf beim Rausfahren aus Turn 4 in einen Zwischenfall verwickelt, als sich der Südafrikaner an Marc Márquez und Pecco Bagnaia vorbeischob. «Als sich Marc und Pecco in den Kurven 3 und 4 gestritten haben und sie eng in die Kurve 4 eingebogen sind, sah ich die Möglichkeit, einen Angriff zu starten, der perfekt funktioniert hat.»
Dafür klagte der WM-Sechste Luca Marini, Binder habe ihn beim Le-Mans-Sprint beim Überholen berührt und die am Abend davor von den Stewards festgelegte Strafe dafür nicht bekommen.
Red Bull-KTM-Werkspilot Binder redete nicht lang um den heißen Brei herum. «Das ist absoluter Bullshit, ich habe ihn nie berührt. Es hat kein Kontakt stattgefunden. Was soll ich also noch dazu sagen?»
Ducati-Sportdirektor Paolo Ciabatti versicherte: «Ich habe keinen Grund, Luca Marini nicht zu glauben.»
Wenn man sich unter den MotoGP-Piloten umhört, die in Le Mans am Freitag um 18.30 Uhr die Sitzung der Safety Commission mit den Stewards Spencer, Sorromolinos und Matko besuchten, so hört man wenige Stimmen, die meinen, Spencer habe sich gut aus der Affäre gezogen. Jack Miller klipp und klar: «Die ganze Sitzung war Zeitverschwendung. Spencer hört nie zu.»
«Es ist sinnlos», wettert Aleix Espargaró
Aleix Espargaró hat die Nase voll: «Ich werde im ganzen Jahr keine Silbe mehr über die Stewards sagen. Es ist sinnlos.»
Der Aprilia-Star hatte sich schon 2020 nach dem verheerenden Zusammenstoß von Johann Zarco mit Franco Morbidelli in Spielberg vor der Kurve 3 kein Blatt vor den Mund genommen. «Wir Fahrer bemängeln, dass die Stewards dieselben Aktionen nicht immer gleich bewerten. Es hängt bei ihnen davon ab, ob der Fahrer stürzt oder nicht; ob er das Rennen anführt oder nicht; ob der Vorfall in der Moto3 oder MotoGP stattfindet. Aber eine Regel ist eine Regel. Es ist egal, ob zwei Jungs um die Top-20 in der Moto3 kämpfen oder ob es sich um Marc Márquez und Valentino Rossi handelt. Eine Vorschrift bleibt eine Vorschrift. In diesem Aspekt können wir etwas verbessern. Bei gewissen Aktionen sind wir überhaupt nicht einverstanden; vor allem bei der Gleichbehandlung kann am meisten verbessert werden», bekräftigte er.
Traurig: Die Stewards haben also in den letzten drei Jahren nichts dazu gelernt. Denn die Vorwürfe, die Urteile lassen an Konstanz vermissen, hören wir heute fast täglich.
Maverick Viñales stellte am Freitag in Le Mans fest: «Ich möchte den Job der Stewards nicht.»
Ob bei der Auswahl der Stewards, zu denen auch der deutsche Ex-Seitenwagen-GP-Sieger Ralph Bohnhorst gehört, in diesem Jahr oft als Appeal Steward, die besten Köpfe am Werk sind, das wird jetzt von FIM, Dorna und RTA geprüft.
Ein involvierter Spitzenfunktionär räumte im Gespräch mit SPEEDWEEK.com ein: «Wir haben zu viele Kamerapositionen und zu viel moderne Technik, deshalb strafen wir zu viel. Das muss sich wieder ändern.»
Denn manche Fahrer haben bemerkt, dass die Stewards oft wachsam und sofort aktiv werden, wenn sie auf den TV-Bildschirmen wild fuchtelnde und verärgerte Fahrer erblicken. Das erinnert ans Fußballgeschehen, wo die Spieler vermutlich schon eine Schauspielausbildung zu bekommen scheinen, um besonders theatralisch auf mutmaßliche Fouls hinweisen können.
Das System des «FIM MotoGP Stewards Panels» wurde nach dem Sepang-Clash zwischen Valentino Rossi und Marc Márquez 2015 eingeführt. Bis dahin existierten die Penalty Points, und manchmal verhängte Race Director eine Strafe erst am Donnerstag beim nächsten Grand Prix, um die Bilder vom Vorfall in Ruhe studieren zu können.
Heute wird in «real time» entschieden. Und Bohnhorst lehnt die Einsprüche in Echtzeit mit manchmal kabarettistischen Begründungen («ambitionierte Fahrweise») ab. Dass der deutsche FIM-Funktionär 2022 noch abwechselnd mit den drei heutigen Stewards im Gremium saß, verstärkt den Eindruck der Unabhängigkeit auf keinen Fall.
Das Wichtigste wäre, endlich zu konstanten Spielregeln zu finden und vergleichbare Handlungen mit vergleichbaren Strafen zu ahnden. Aber ein Spitzenfunktionär stellte am Samstag in Le Mans ernüchtert fest: «Die Schlussfolgerung des Meetings mit den Stewards ist, dass es kein Ergebnis gibt. Manche Strafen waren lächerlich, die Begründungen für nicht verhängte Strafen mitunter ebenfalls.»
«Die Fahrer legten in Le Mans am Freitagabend ihre Fragen auf den Tisch und bekamen Antworten», fasst Ducati-Sportdirektor Paolo Ciabatti zusammen. «Unsere Fahrer haben berichtet: Wenn du im Rennen bei einem Überholmanöver einen Gegner berührst, musst du dich einen Platz zurückfallen lassen. Wenn du bei einem Überholmanöver einen Gegner zu Sturz bringst, musst du eine Long-Lap-Runde fahren. Doch einen Tag danach hatten diese Maßnahmen anscheinend schon keine Gültigkeit mehr. Denn Marc Márquez hat im Sprint Spuren am Leder von Bagnaia hinterlassen, er hatte ihn berührt. Eine Strafe gab es nicht. Dann gab es den Vorfall zwischen Binder und Marini. Luca war anderer Ansicht als Brad und sagte, er sei von ihm berührt und von der Fahrbahn gedrängt worden. Es gab keine Strafe. Marini hat mir gesagt, er sei gerammt worden. Was Binder betrifft: Manchmal merkt ein Fahrer in der Hitze des Gefechts nicht, was genau passiert ist. Jedenfalls gab es im Sprint in Le Mans keine Strafen; es fehlt also weiter die Konstanz. Am Freitag wurden den Fahrern die Vorschriften erklärt. Am nächsten Tag wurden sie jedoch nicht angewendet.»