Honda-Tiefpunkt: Jetzt kann's nur noch aufwärts gehen
Bei den Managern der Honda Racing Corporation (HRC) rauchen die Köpfe. Erstens denkt der sechsfache MotoGP-Weltmeister Marc Márquez ernsthaft über eine vorzeitige Vertragsauflösung nach. Zweitens prüft der sechsfache MotoGP-Sieger Alex Rins (27), ob er aus seinem HRC-Deal herauskommt, um bei Yamaha unterschreiben zu können.
Und während Pol Espargaró 2021 und 2022 fast zwei Jahre brauchte, um bei HRC alle Hoffnungen fahren zu lassen, war bei Neuzugang und Nachfolger Joan Mir die Enttäuschung bereits beim zweiten Grand Prix in Las Termas auf dem absoluten Tiefpunkt. Sie offenbarte sich dann in Mugello, wo der Mallorquiner am Freitag nach einer Fingerverletzung für drei Grand Prix zurückzog, obwohl ihn der Rennarzt für «fit to race» erklärt hatte. Kein Wunder, wenn Repsol-Honda vom letzten Platz in der Team-WM nicht wegkommt.
Vom aktuellen Fahrer-Quartett hat nur Taka Nakagami einen Ein-Jahres-Vertrag. Der Japaner hat zwar in sechseinhalb Jahren noch keinen Podestplatz errungen und lästert inzwischen ebenfalls bei jeder Gelegenheit über das Material, aber ein besserer Kandidat ist sowieso nicht in Sicht.
Marc Márquez hat trotz seiner phänomenalen Jahresgage (sie wird auf 20 bis 25 Millionen Euro geschätzt) seit Mugello 2022 immer wieder deutliche Kritik an der Schlagkraft der Honda RC213V geübt.
Inzwischen steht der Superstar seit 653 Tagen ohne Sieg da.
Wegen seiner regelmäßigen Stürze, Verletzungen und Operationen hat er nur die Hälfte der 60 Sonntagsrennen seit dem Jerez-GP 2020 bestritten. 2023 ist der 30-jährige Spanier am Sonntag noch punktelos; nach acht Grand Prix liegt er in der Fahrer-WM an 19. Position.
Im November hatte Marc angekündigt: «Ich bin nach der vierten Oberarm-Operation wieder voll einsätzfähig. Ich habe meinen Beitrag geleistet und werde mich über den Winter körperlich in Bestform bringen. Jetzt müssen die Honda-Ingenieure ihren Beitrag leisten und ein Sieger-Motorrad bauen.»
Aber Marc trudelte bei den Wintertests immer auf den Plätzen 13 und 14 ein und verlor meist 0,8 Sekunden auf die Spitze. Er machte seither in erster Linie durch Kollisionen, Penaltys und weitere Verletzungen von sich reden.
HRC: Takeo Yokoyama als Bauernopfer
Bei HRC war im Herbst Technical Manager Takeo Yokoyama seines Amtes enthoben worden, aber unter dem neuen Technical Manager Ken Kawauchi verschlimmerte sich die Misere immer weiter.
Die HRC-Ingenieure sind ratloser als je zuvor. Marc Márquez meinte im Februar in Sepang, der Motor sei kräftig genug, aber die Power lasse sich nicht auf die Fahrbahn bringen.
In ihrer Verzweiflung bestellten die Japaner bei Kalex in Bobingen zuerst eine Alu-Hinterradschwinge, dann fünf komplette Chassis, aber nach der ersten Begeisterung beim Debüt in Le Mans 2023 ist bei der Nummer 93 inzwischen Ernüchterung eingekehrt. In Assen liess Marc die Kalex-Rahmen für den Sonntag wieder ausbauen.
Die Experten hatten sich schon im September gewundert, warum eine Aluschwinge eine Wende zum Besseren bringen sollte, wenn Ducati, Aprilia und KTM seit Jahren mit Karbonschwingen an der Spitze mitfahren und gewinnen.
Doch diese Verzweiflungstat der HRC-Ingenieure war nur eine von mehreren – wie der späte Wechsel zu Akrapovic-Auspuffanlagen im Winter.
Während der Honda ganz offenbar der mechanische Grip fehlt, experimentierten die HRC-Techniker beim Deutschland-GP eine Brachiallösung in Form eines aggressiveren Elektronik-Set-ups für die Traction Control.
Das Ergebnis: Marc Márquez stürzte im Warm-up in Sachsen fürchterlich und musste dann auf die Rennteilnahme verzichten – wie auch am Sonntag in Assen, nach Platz 17 im Sprint vom Samstag. «Ich war beim Sturz im Warm-up in Deutschland nicht am Limit», beteuerte Márquez in Assen.
Was der wütende Spanier den Honda-Ingenieuren nach diesem Fauxpas erzählte, kann man sich ausmalen.
Wo sind die pfiffigen HRC-Ingenieure geblieben?
Bei der Aerodynamik fällt den einst so innovativen Japanern seit zwei Jahren nichts besseres ein, als Ducati und Aprilia zu kopieren.
Wo sind die pfiffigen Ingenieure hingekommen, die zum Beispiel einst die geniale und unschlagbare 990-ccm-Fünfzylinder gebaut und dann das prächtige Seamless-Getriebe erfunden haben?
Warum verfügt sogar der anfangs von den Japanern belächelte Offroad-Spezialist KTM seit drei Jahren über die schlagkräftigeren Fahreraufgebote und die erfolgreicheren Motorräder, die zum Beispiel dem Eigenbau-Fahrer Miguel Oliveira zwischen 2020 und 2022 zu fünf MotoGP-Siegen verholfen haben?
Wann ist zuletzt bei Honda ein Rookie wie Augusto Fernández beim fünften Rennen (in Le Mans 2023) auf Platz 4 gebraust? Oder ein Wildcard-Fahrer wie der 37-jährige Dani Pedrosa (in Jerez 2023) auf die Ränge 6 und 7?
In den anderen Rennserien schaut es nicht viel anders aus: In der Moto3 hat Honda seit 2019 keinen Titel gewonnen. Das Superbike-WM-Werksteam blamiert sich täglich, seit es wieder von HRC selbst dirigiert wird. Und das sind jetzt immerhin bald sechs Jahre.
Das sind lauter Tatsachen, die sich nicht schönreden lassen. Denn in den letzten zwei Jahren kam nie ein Honda-Pilot in der MotoGP-Fahrer-WM unter die Top-12!
Das einzige, was momentan für HRC spricht: Dieses Unternehmen verfügt über grenzenlose Budgets, die durch den Verkauf von 17 Millionen motorisierten Zweirädern pro Jahr gespeist werden.
Aber Geld allein gewinnt keine Rennen.
Trotz des Geldsegens entschieden sich schon Joan Mir und Alex Rins nur deshalb für Honda, weil sich Suzuki Ende 2022 zurückgezogen hat und alle anderen Türen versperrt waren.
In den nächsten Wochen wird sich zeigen, ob Marc Márquez noch ein weiteres Jahr in den sauren Honda-Apfel beisst oder ob er sich ein Sabbatical gönnt, mit dem Zweiradsport aufhört oder vielleicht Autorennen fährt – wie Rossi, Pedrosa, Lorenzo und einst Stoner nach seinem Rückzug.
Alles ist möglich.
Auch bei Mir, Rins und Nakagami hängt der Haussegen schief.
Marc Márquez: «Ich bin an einem Tiefpunkt»
Er habe jetzt eineinhalb Monate Zeit, um alles wieder aufzubauen – auf der körperlichen und mentalen Seite, hielt Marc Márquez am Sonntag in Assen am 25. Juni fest.
Auf die Frage, ob er sich einen Rückzug am Saisonende 2023 vorstellen kann, entgegnete er: «Ich bin im Moment an einem Tiefpunkt und kann jetzt nicht darüber nachdenken. Du kannst nicht über deine Zukunft entscheiden, wenn du in so einer Verfassung bist. Ich muss jetzt erst einmal meinen Körper und meine mentale Seite wieder aufbauen.»
Danach räumte Marc ein: «Ich befinde mich im schwierigsten Moment meiner Karriere.»
Dass sein kleiner Bruder Alex, zuletzt Sechster in Assen, auf der letztjährigen Ducati nach drei missglückten Honda-MotoGP-Jahren auf Anhieb wieder bei der Musik war, bringt den 85-fachen GP-Sieger natürlich arg ins Grübeln.
Aber Marc Márquez hat sich bei HRC durch den wasserdichten Vier-Jahres-Vertrag, den ihm der damalige Manager Emilio Alzamora nach der Saison 2019 eingebrockt hat, in eine ausweglose Situation manövriert.
Denn bei allen anderen Herstellern ist #93 für 2024 unerwünscht.
Da nützen auch die wildesten Fantasien der Kollegen in Italien, Spanien und Großbritannien nichts, die ein drittes MotoGP-Team der Pierer Mobility AG mit den Marken KTM, GASGAS und Husqvarna herbei schreiben wollen. Zum Beispiel durch die Übernahme des Gresini-Teams für 2024.
In Österreich wird längst über die «Márquez zu KTM»-Geschichten geschmunzelt. Sie werden als «undenkbar» bezeichnet.
«Es gibt nur eine Möglichkeit, wie Márquez zu einer KTM RC16 kommen könnte», schmunzelte ein Pierer-Mobility-Manager. «Er müsste sich in der MotoHall in Mattighofen ein Auslaufmodell kaufen…»
MotoGP-Ergebnisse, Assen (25. Juni):
1. Bagnaia, Ducati, 26 Rdn in 40:37,640 min
2. Bezzecchi, Ducati, + 1,223 sec
3. Aleix Espargaró, Aprilia, + 1,925
4. Brad Binder*, KTM, + 1,528
5. Martin, Ducati, + 1,934
6. Alex Márquez, Ducati, + 12,437
7. Marini, Ducati, + 14,174
8. Nakagami, Honda, + 14,616
9. Morbidelli, Yamaha, + 29,335
10. Augusto Fernández, KTM, + 33,763
11. Savadori, Aprilia, + 35,084
12. Raúl Fernández, Aprilia, + 39,622
13. Bradl, Honda, + 42,504
14. Folger, KTM, + 45,609
– Di Giannantonio, Ducati, 8 Runden zurück
– Lecuona, Honda, 12 Runden zurück
– Oliveira, Aprilia, 14 Runden zurück
– Bastianini, Ducati, 20 Runden zurück
– Viñales, Aprilia, 23 Runden zurück
– Quartararo, Yamaha, 24 Runden zurück
– Zarco, Ducati, 24 Runden zurück
– Miller, KTM, 25 Runden zurück
*= ein Platz zurück («track limits»-Vergehen)
Ergebnisse MotoGP-Sprint Assen (24. Juni):
1. Bezzecchi, Ducati, 13 Rdn in 20:09,174 min
2. Bagnaia, Ducati, +1,294 sec
3. Quartararo, Yamaha, +1,872
4. Aleix Espargaró, Aprilia, +2,245
5. Brad Binder*, KTM, +4,582
6. Martin, Ducati, +5,036
7. Viñales, Aprilia, +5,876
8. Bastianini, Ducati, +10,102
9. Alex Márquez, Ducati, +10,525
10. Marini**, Ducati, +10,556
11. Miller, KTM, +11,191
12. Nakagami, Honda, +11,473
13. Zarco, Ducati, +15,439
14. Augusto Fernández, KTM, +17,754
15. Morbidelli, Yamaha, +19,508
16. Savadori, Aprilia, +19,664
17. Marc Márquez, Honda, +19,916
18. Raúl Fernández, Aprilia, +20,583
19. Oliveira, Aprilia, + 24,269
20. Lecuona, Honda, +24,727
21. Folger, KTM, +32,056
22. Bradl, Honda, +35,372
– Di Giannantonio, Ducati, 10 Runden zurück
*= erhielt 3 sec Strafe
**= erhielt 0,5 sec Strafe
WM-Stand nach 16 von 40 Rennen:
1. Bagnaia, 194 Punkte. 2. Martin 159. 3. Bezzecchi 158. 4. Binder 114. 5. Zarco 109. 6. Marini 98. 7. Miller 79. 8. Aleix Espargaró 77. 9. Quartararo 64. 10. Alex Márquez 63. 11. Morbidelli 57. 12. Viñales 56. 13. Rins 47. 14. Augusto Fernández 42. 15. Nakagami 34. 16. Di Giannantonio 34. 17. Oliveira 27. 18. Bastianini 18. 19. Marc Márquez 15. 20. Pedrosa 13. 21. Savadori 9. 22. Folger 9. 23. Raúl Fernández 8. 24. Pirro 5. 25. Petrucci 5. 26. Mir 5. 27. Bradl 5.
Konstrukteurs-WM:
1. Ducati, 285 Punkte. 2. KTM 153. 3. Aprilia 121. 4. Honda 89. 5. Yamaha 82.
Team-WM:
1. Prima Pramac Racing, 268 Punkte. 2. Mooney VR46 Racing 256. 3. Ducati Lenovo Team 222. 4. Red Bull KTM Factory Racing 193. 5. Aprilia Racing 133. 6. Monster Energy Yamaha 121. 7. Gresini Racing 97. 8. LCR Honda 84. 9. GASGAS Factory Racing Tech3, 51. 10. CryptoDATA RNF 39. 11. Repsol Honda 20.