Zwölf Gründe, warum Rossi nach 2014 weiterfährt
Im vergangenen Winter habe ich in einer Kolumne zehn Gründe aufgezählt, warum Valentino Rossi nach der Saison 2014 abtreten wird.
Manche User hielten diese Meinungsäusserung für mutig.
Aber Mut ist keine wertvolle journalistische Kategorie.
Ich habe nach der Saison nur eins und eins zusammengezählt und meine – voreiligen – Schlüsse gezogen.
Sie waren falsch. Ich lag dramatisch daneben.
Denn seither ist einiges passiert, manches konnte nicht unbedingt erwartet werden. Die Bestzeit beim zweiten Sepang-Test, Rossi ist mit den neuen Bridgestone-Hinterreifen konstant schneller als Lorenzo, er fuhr in Katar nur um 0,2 sec am Sieg vorbei,
Aber ich suche keine Ausflüchte. Ich habe mich geirrt.
Gott sein Dank.
Denn ich will mir momentan keine MotoGP-Saison ohne den schillernden Rossi mit all seinen Emotionen vorstellen – er macht uns Reportern das Leben einfacher. Auch wenn das viele Fans anders sehen. «The Doctor» ist eine Bereicherung in vielerlei Hinsicht, er verdient Bewunderung, immerhin bestreitet er mit 35 Jahren seine 19. GP-Saison.
Natürlich hat er Neider. Vielen Fans hat er zu viel gewonnen, manche sagen, er habe in seine besten Zeiten überlegenes Material gehabt. Mag ja sein, aber war es bei Agostini, Nieto, Roberts, Sheene, Spencer, Doohan, Lawson und vielen anderen Seriensiegern nicht anders?
Dazu kommt, dass Rossi ein geborener Entertainer ist, ein bunter Charakter wie einst Barry Sheene, er sorgt für Schlagzeilen, notfalls prügelt er sich auf dem Siegerpodest mit Biaggi, oder er leistet sich einen Steuerskandal. Im Gegensatz zu anderen Stars brachte er den Mut auf, Honda als überlegenes Werk Ende 2003 zu verlassen, er ging zu Yamaha, wo zehn Jahre lang alle Stars von Biaggi, Barros bis Checa am Titelgewinn gescheitert waren. Und er schreckte sogar vor zwei Ducati-Jahren nicht zurück, weil ihn der junge Jorge Lorenzo 2010 bei Yamaha entzaubert und aus dem Team gedrängt hatte.
Mit einem Wort: Rossi ist für uns Journalisten ein gefundenes Fressen, er sorgt für Einschaltquoten, er bündelt das Interesse.
Ganz ehrlich: Selbst sein Handlanger Uccio schreibt beim Misano-GP mehr Autogramme als Pedrosa und Lorenzo zusammen.
Eigentlich wollte ich jetzt zehn langatmige Gründe aufzählen, warum sich Rossi zum Weitermachen entschlossen hat.
Aber ich mache es kurz. Dafür sind es zwölf geworden.
1. Rossi hat eine Rechnung mit Lorenzo offen
Der Spanier hat ihm 2010 (Rossi damals: «Yamaha muss sich entscheiden, er oder ich») die Zukunft bei Yamaha vermasselt, jetzt bietet sich die Chance auf eine süsse Revanche.
2. Rossi hat immer noch Podestchancen
Der 35-jährige Italiener weiss, dass er keine elf Rennen pro Jahr wie in seinen besten Tagen gewinnen kann. Aber in Katar 2014 fuhr er vom neunten Startplatz fast zum Sieg. Er kann es also noch.
3. Rossi muss Burgess-Rauschmiss rechtfertigen
Der neunfache Weltmeister hat im November nach 14 gemeinsamen Jahren in der Königsklasse seinen Crew-Chef Jeremy Burgess entlassen und ihn durch den Italiener Silvano Galbusera ersetzt. Rossi hat diesen Schritt nicht bereut, er schöpft dadurch neue Motivation – nicht nur für 2014.
4. Rossi will Ducati etwas beweisen
«Ich will beweisen, dass der Fahrer den Unterschied ausmacht und nicht das Motorrad», erklärte Valentino Rossi, als er Ende 2003 vom überlegenen Honda-Werksteam zum Underdog Yamaha ging. Bei Ducati konnte die Nr. 46 diese These 2011 und 2012 nicht unter Beweis stellen. Aber zumindest zeigt Vale seit seiner Rückkehr zu Yamaha, dass er mit konkurrenzfähigem Material um Podestplätze fighten kann. Jetzt will er die Roten hinter sich lassen, trotz deren Open-Class-Vorteile. Übrigens: Rossi hat durch seine zwei tristen Ducati-Jahre dort den grossen Umsturz eingeleitet, der zur Entlassung von Renndirektor und Konstrukteur Filippo Preziosi und zur Verpflichtung von Gigi Dall’Igna führte.
5. Die Familie kann warten
Valentino Rossi (35) macht kein Geheimnis daraus, dass er heiraten und Kinder haben möchte. Mit Linda Morselli hat er die gewünschte Partnerin schon gefunden. Es wird bereits über einen Hochzeitstermin gesprochen. Aber der Nachwuchs muss wohl noch zwei, drei Jahre warten.
6. Die berufliche Zukunft ist gesichert
Valentino Rossi hat finanziell ausgesorgt, er hat in seinen besten Jahren mehr als 20 Millionen Euro verdient. Für 2013 hat er ein 17-Mio-Euro-Angebot von Marlboro und Ducati ausgeschlagen und lieber für einen Bruchteil davon das Yamaha-Angebot angenommen. Er verdient heute mit seiner Merchandising-Linie eine Menge Geld und vertreibt und verkauft inzwischen auch die Merchandising-Produkte für Gegner wie Crutchlow und Redding. Dazu gehört ihm Team das Sky VR46 Moto3-KTM-Team, das in Texas mit Platz 2 von Romano Fenati brillierte. Ausserdem führt er in seiner VR46-Academy junge Talente an die Weltspitze heran, darunter seinen Halbbruder Luca Marini. Und nach der Saison 2016 kann Rossi noch ein bisschen Autorennen fahren – im Sportwagen oder Tourenwagen.
7. Der Wettkampf gegen die junge Generation motiviert ihn
Valentino Rossi hat seine Energie immer aus dem Wettstreit gegen Erzrivalen wie Biaggi und Gibernau gewonnen, später gegen Stoner und Lorenzo. Heute ist er abgeklärter, er anerkennt die Fähigkeiten von Stars wie Márquez und Lorenzo, er ist gelassener geworden. Aber heimlich beschäftigt ihn die Frage, ob er dank seiner Konstanz nicht noch einmal ganz nach vorne kommen könnte, wenn sich auch Márquez einmal ähnliche Patzer leistet wie zuletzt Lorenzo.
8. Rossi kann 2014 bester Yamaha-Pilot werden
Bei den ersten zwei WM-Rennen hat Rossi seinen Teamkollegen Lorenzo klar in den Schatten gestellt, er kann in der WM vor dem Spanier bleiben und sie als bester Yamaha-Pilot abschliessen. Also kommt Yamaha nicht in die Verlegenheit, einen der Junioren wie Pol Espargaró oder Bradley Smith vom Tech3-Junior-Team ins Werksteam transferieren zu müssen.
9. Die Jagd nach Agos Rekord
Mit 106 GP-Siegen ist Rossi dem All-Time-Rekord von Giacomo Agostini (122 Siege) bereits nahe gerückt. Aber er wird den Landsmann nicht mehr einholen, denn die Zeit der Seriensiege ist vorbei, ausserdem fuhr «Ago nazionale» immer in zwei Klassen. «Aber solange ich fahre, muss Ago zittern», grinst Rossi bei diesem Thema. Er hat freilich in den letzten dreieinhalb Jahren nur ein Rennen gewonnen.
10. Rossi hat seine Leidenschaft nicht verloren
Auch in der 19. GP-Saison sind beim 106-fachen GP-Sieger noch keine Abnützungserscheinungen zu erkennen. Das innere Feuer brennt wieder. Mit 35 Jahren noch einmal den 21-jährigen Marc Márquez herauszufordern, das reizt den ehrgeizigen Routinier, der die Aufmerksamkeit der Fans und Medien geniesst und wieder richtig aufgeblüht ist. Die Freude am Wettkampf und an der Auseinandersetzung ist deutlich zu spüren.
11. Die neuen MotoGP-Maschinen
Die heutige Generation der 1000-ccm-Viertakt-Prototypen mit 260 PS und 340 km/h Top-Speed (bei 160 kg Fahrzeuggewicht) sind längst nicht mehr jene teuflischen Kisten wie die 500-ccm-Zweitakter mit ihrer brachialen Leistungsentfaltung. Die elektronischen System (Launch Controil, Traction Control, Wheelie Control) machen die gefährlichen Highsider zu Ausnahmefällen, Stürze übers Vorderrad verlaufen meistens glimpflich. Rossi hat das Risiko buchstäblich im Griff. An das Verhalten der Brigdestone-Reifen hat er sich in der siebten Saison prächtig gewöhnt.
12. Die Moto-WM braucht die Galionsfigur Rossi
Ich bin wohl nicht der einzige, der sich momentan eine MotoGP-WM ohne Rossi nicht vorstellen will. Auch Dorna-Chef Carmelo Ezpeleta weiss, dass Rossi hohe TV-Einschaltquoten garantiert und anständige Zuschauerzahlen bei den Rennen. Der Italiener wird auch 2015 und 2016 im Yamaha-Werksteam noch die grosse Attraktion bilden. Aber daneben hat sich eine starke MotoGP-Truppe entwickelt – mit guten Typen wie Márquez, Crutchlow und Hayden, mit starken Fahrern wie Dovizioso, Bradl, Iannone und Bautista sowie den Espargáro-Brüdern, spätestens 2016 wird auch Maverick Viñales mitmischen. Rossis Abgang wird wohl Ende 2016 über die Bühne gehen. Er wird uns leid tun, aber wir werden ihn verschmerzen. Besser als heute.
Und da Rossi immer für eine Überraschung gut ist, könnte er 2017 für Yamaha noch die Superbike-WM bestreiten, wenn er bis dahion immer noch nicht genug hat. Dort kann man im Alter von «40+» noch Weltmeister werden, wie Biaggi gezeigt hat.