Fix: MotoGP-Finale nicht in Valencia

Die Misere des Jorge Lorenzo: Hirn links, Hirn rechts

Kolumne von Michael Scott
Jorge Lorenzo: ein völlig missratener Saisonstart

Jorge Lorenzo: ein völlig missratener Saisonstart

Yamaha-Star Jorge Lorenzo erlebt einen Saisonstart zum Vergessen: Sturz in Doha, Frühstart in Austin. Leidet er an einem Marc-Marquez-Komplex? Ein Psychogramm des zweifachen Weltmeisters.

Ich glaube, es war Kevin Magee, der damals das Thema auf den Punkt brachte. Oder war es Eddie Lawson, dieser Meister der spitzen Bemerkungen?

Egal. Lang, lang ist es jedenfalls her. Doch das Thema, und da bin ich mir nun ausnahmsweise sicher, war schon lange vor den goldenen Jahren der 500-ccm-Ära aktuell. Es ist gewissermaßen die zentrale Frage, die den Motorrad-Rennsport seit jeher umtreibt: Was braucht es, um eine schnelle Runde auf einem Grand-Prix-Motorrad hinzuknallen? Ganz einfach: Lass dein Hirn an der Box.

Jorge Lorenzo scheint diese (zugegeben platte) These derzeit etwas zu drastisch umsetzen zu wollen. Diesen Anschein jedenfalls erwecken seine Darbietungen bei den ersten beiden Grands Prix des Jahres. Man spürt, wie Lorenzo leidet, wie er leidet angesichts eines zunehmend unbezwingbar erscheinenden Marc Márquez. Sein Ausrutscher in der Startrunde von Doha sei, so formulierte es Lorenzo selbst, ein Anfängerfehler gewesen.

Doch dann folgte dieser eklatante Frühstart in Austin, diese beinahe Slap-stick-reife Darbietung. Da fehlten uns Beobachtern schlichtweg die Worte. Lorenzo glaubte, die Erklärung für diesen Faux-pas in den starken Mückenschwärmen in Austin gefunden zu haben. Die Mücken hätten ihn genötigt, noch am Startplatz ein Abreißvisier zu entfernen. Scheinbar zu viel der Ablenkung für einen zweifachen MotoGP-Weltmeister, der dann – böse, böse Mücken! – zwei Sekunden vor dem Rest des Feldes losbraust. War´s das bereits mit seinem dritten MotoGP-Titel? Ist für Lorenzo die Saison gelaufen, bevor sie richtig losgeht?

Lorenzo neben der Spur

Dabei endete die Saison 2013 für Lorenzo vielversprechend. Drei Siege in den letzten drei Rennen, beinahe noch den in der WM scheinbar uneinholbar führenden Marc Márquez eingeholt, all dies dank Verbesserungen am Fahrverhalten der Yamaha, etwas mehr Power, dem Seamlesse-Getriebe und natürlich auch dank des Null-Punkte-Fiaskos von Márquez auf Philipp Island.

Das Saison-Finish 2013 war einmal mehr ein Beleg dafür, dass im Grand-Prix-Rennsport die Dinge selten so laufen wie erwartet.

Nun aber irritiert es mich in nicht geringem Maße, wie Lorenzo plötzlich neben der Spur fährt. Lorenzo, der Mister Perfect des Motorrad-WM-Rennsports. Lorenzo, der sonst so berechnende, abgeklärte Racer. Lorenzo, bislang stets ein Mann der perfekten Selbstkontrolle. Müssen wir unser Lorenzo-Bild korrigieren? Lorenzo die komische Figur, gar mit einer grotesken Note?

99 Prozent: nah am Limit, nicht darüber

In seinen Anfangsjahren in der MotoGP versuchte es Lorenzo mit verschiedenen Meditations-Techniken. Das schien zu funktionieren. Innerhalb kurzer Zeit wandelte er sich vom wilden, undisziplinierten Halbstarken, der um ein Haar auf die eigenen Mechaniker losgegangen wäre, wenn es nicht nach Wunsch lief, zu einem Mann, der sowohl auf als auch neben der Piste ein stets beherrschtes, kontrolliertes, beinahe Sphinx-ähnliches Gemüt an den Tag legte.

Kein anderer Pilot pflegt einen so sauberen, weichen und sanften Fahrstil, keiner beweist soviel Sicherheit und Kontrolle in der Bremsphase und ein solch sensibles Händchen beim Beschleunigen. Lorenzo fuhr entsprechend seiner Startnummer: mit 99 Prozent. Ganz nah am Limit, aber nicht darüber

Was ist bloß los mit Lorenzo?

Diese Selbstkontrolle hat auch ihre fragwürdigen Seiten. Kein anderer Pilot legt eine solch ausgeprägte Kälte und Emotionslosigkeit an den Tag, wenn es darum geht, sich bei seinem Arbeitgeber, seinem Team und seinen Sponsoren zu bedanken.

Sogar wenn Lorenzo über Themen schwadroniert, die ihn erregen (er selbst sagt: «Wenn ich heiss werde»), beispielsweise über Marc Márquez, der bei allen Rüpeleien auf der Piste meist straffrei davon kommt – sogar dann hält Lorenzo seine Emotionen im Zaum.

Er mag schon einmal aus einer Fahrerbesprechung stürmen – jedoch nur aus purer Berechnung heraus, um einen maximalen Effekt zu erzielen (was damals, als es um Márquez ging, misslang).

Nun aber, nach den ersten beiden Grands Prix 2014, stellt sich die Frage: Was ist bloß mit diesem Jorge Lorenzo los? Ist das der Jorge Lorenzo, den wir alle kennen? Was ist passiert? Marc Márquez ist passiert. Márquez und seine Honda sind passiert. Dieser Bengel Márquez, der mit einer jugendlichen Hingabe, Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit agiert, die ihm eine für seine Gegner schmerzhafte Aura des Unbesiegbaren verleihen, dieser Bengel zeigt einem Jorge Lorenzo, dass 99 Prozent schlichtweg nicht genügen.

Wissenschafter links, Künstler rechts

Kommen wir zurück zum eingangs erwähnten Aspekt des «Hirn-Ausschaltens». Es gibt die linke Hirnhälfte und die rechte Hirnhälfte.

Die linke Hirnhälfte, heißt es, sei für die Logik, die Analytik und die Fähigkeit zur objektiven Betrachtung von Sachverhalten zuständig. Die rechte Hirnhälfte dagegen kümmere sich mehr für die Intuition, um den Geist, um die Subjektivität.

Jeder Mensch ist also ein Wissenschafter links, ein Künstler rechts.

Welche der zwei Hirnhälften sollte eher an der Box bleiben: die linke oder die rechte? Und: Verschwimmen bei Lorenzo derzeit beide Gehirnhälften und ihre Zuständigkeiten?

Die Folge: Ein solchermaßen verwirrter Jorge Lorenzo, bei dem im Zweifelsfall die rechte Seite, also der Künstler, das Kommando übernimmt? Diese Frage ist nicht so unbedeutend, wie sie zunächst erscheinen mag. Die analytische Herangehensweise, die sich Lorenzo über Jahre hinweg angeeignet hat (wie oft sagte er doch, bei diversen Anlässen: «Ich habe es aus einem Buch gelernt») – dieser «Lorenzo-style» scheint ernsthaft in Gefahr.

Wenn es kalt erwischt wird, vertauscht ein Gehirn eben schnell mal seine Hemisphären. Auch bei einem Lorenzo. Oder etwa doch nicht?

Die «Linke-Hirnhälfte-rechte-Hirnhälfte»-Theorie hat ihren Ursprung im späten 20. Jahrhundert, entwickelt wurde sie vom Nobelpreisträger Roger W. Sperry. Dummerweise wird Sperrys These durch neueste Studien erschüttert. Wäre auch zu einfach gewesen: links, rechts, basta. Diese neuen Untersuchungen besagen, dass alle Fähigkeiten eines Menschen (auch seine mathematischen Fähigkeiten zum Beispiel) am besten zum Tragen kommen, wenn beide Hirnhälften zusammen arbeiten.

Beide Hirnhälften einschalten!

Was erwartet uns als nächstes? Alles ist möglich. Vielleicht ist es demnächst Márquez, der wiederholt von seiner Maschine purzelt. Oder Lorenzo fängt sich plötzlich und gewinnt (auch dank technischer Fortschritte, welche seine Yamaha-Techniker erzielen) wieder Rennen.

Vielleicht aber zieht sich das momentane Szenario noch eine Weile lang hin. Márquez siegt, Lorenzo verzweifelt. Dann freilich bräuchte Lorenzo ein extra-dickes Selbsthilfe-Buch. Mein Tipp an ihn: Beim Lesen beide Hirnhälften einschalten.

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