Valentino Rossi: Ein Rücktritt wäre Geschäftsstörung
Vor ziemlich genau in einem Jahr habe ich eine Kolumne unter dem Titel «Zehn Gründe, warum Rossi Ende 2014 aufhören wird» geschrieben.
Vier Monate später erwähnte ich zwölf Gründe, warum Rossi bis Ende 2016 weiterfahren werde.
Beide Artikel waren fachlich einigermassen fundiert. Der erste wurde mit etwas Wehmut geschrieben, denn Rossi ist eine Lichtgestalt, er gewinnt seit mehr als 18 Jahren GP-Rennen, auf Aprilia, auf Honda und auf Yamaha.
Er hat einige Generationen überlebt, er hat Biaggi entzaubert, dazu Gibernau und Stoner und viele andere mehr.
Und er hat eine alte, natürlich ironisch gemeinte Weisheit bestätigt: Prognosen sind schwer, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.
Vor einem Jahr unterhielten wir uns über einen Valentino Rossi, der 2011 und 2012 bei Ducati das Desaster seines Lebens mitgemacht hatte und dann 2013 bei der Rückkehr ins Yamaha-Team eine Art devoten Steigbügelhalter für Lorenzo (Weltmeister 2010 und 2012) spielen musste, der in drei Jahren nur einen GP-Sieg gefeiert hatte und 2013 vom spanischen Teamkollegen übel gedemütigt wurde.
Rossi gab sich dann Zeit bis zum Mugello-GP Anfang Juni 2014. Bis dahin wollte er die Gewissheit, ob er die Rückkehr an die Spitze wieder schaffen könne, das galt für ihn als Basis für neue Vertragsverhandlungen mit Yamaha.
Schliesslich stellte er Jorge Lorenzo in der ersten Saisonhälfte des Vorjahres klar in den Schatten; er verkniff sich freilich den lauten Jubel, er gefiel sich in der Rolle des stillen Geniessers, die Yamaha-Ingenieure widmeten ihm wieder viel mehr Aufmerksamkeit. Vale belohnte Yamaha mit 13 Podestplätzen bei 18 Rennen.
Rossi gewann in Misano und Phillip Island, er fuhr regelmässig aufs Podest und verdrängte Lorenzo und Pedrosa und Dovizioso in der WM auf die Ränge 3, 4 und 5.
Rossi ist einzigartig
Natürlich hat Rossi seine Gegner und Neider, die er sich durch seine Erfolge redlich erarbeitet hat.
Aber der neunfache Weltmeister ist einzigartig. Ich bin froh und dankbar, dass er uns noch mindestens zwei Jahre erhalten bleibt.
Valentino hat uns viele unvergessliche Augenblicke beschert. Durch sein Fahrkönnen, durch seinen Siegeswillen, durch seine herzerfrischenden Sprüche, durch seinen Killerinstinkt und durch seinen Einfallsreichtum, der sich nicht nur auf die Art seiner Überholmanöver beschränkte.
Rossi genoss und geniesst Narrenfreiheit. Noch heute trägt er dass Kürzel «WLF» als Aufschrift auf der Brust seiner Lederkombi, das steht für «Evviva La Figa», er lässt also in aller Öffentlichkeit das weibliche Geschlechtsorgan hochleben.
Er schrieb kindliche Bemerkungen wie «Tribu dei Chihuahua» auf sein Helmvisier, ein Hinweis auf die Indianderspiele seiner Kindheit, er schmückte sich mit Künstlernamen wie «Rossifumi» und «Valentinik» und schliesslich «The Doctor».
Manches wirkte ein bisschen wie spätpubertäres Gehabe, doch als Rennfahrer entpuppte sich Rossi als überaus professionell und technisch versiert, er gefiel sich aber darin, alles spielerisch aussehen zu lassen und manchmal den Clown zu spielen, vor allem bei den vielen Eskapaden und Lausbubenstreichen nach siegreichen Rennen in der Auslaufrunde.
Trotzdem merkten die Gegner bald: Spassvogel Rossi ist ernst zu nehmen.
Als ihn Jorge Lorenzo nachzuäffen begann, stellte Rossi seine Eskapaden sofort ein. Die Plagiate waren nie so witzig wie das Original.
Rossi liess sich nie verbiegen, er brauchte seine Freiräume und seinen Handlungsspielraum, nur dann brachte er Höchstleistungen.
Er durfte den Formel-1-Ferrari testen, er 2010 in der Yamaha-Box durfte eine Mauer zu Lorenzo errichten und setzte durch, dass sich sein Teamkollege und Klassenneuling aus Spanien ein Jahr lang mit Michelin-Reifen abmühen müsste, während der Weltmeister die überragenden Bridgestone verwendete, die Stoner 2007 zum Weltmeistertitel verholfen hatten.
Auch dieser Schabernack wurde Rossi verziehen, genau sowie seine Steueraffäre 2007, als er plötzlich 65 Millionen Steuern nachzahlen sollte, weil ihm die «Guardia di Finanzia» nicht glauben wollte, dass er in London tatsächlich mit seinem Manager Gibo Badioli in einer möblierten 45-Quadratmeter-Wohnung hauste.
Rossi: Er geniesst politische Immunität
Wenn Rossi aufhört, wird er sich den Vorwurf der Geschäftsstörung gefallen lassen müssen. Von der Dorna, von Yamaha, von den Veranstaltern auf der ganzen Welt, von den Fans auf den Tribünen, ja, auch von den Journalisten.
Valentino war und ist ein Garant für Gesprächsstoff und für Schreibstoff, nie langweilig, immer ehrlich, er verbiegt sich nie, er pfeift gern auf politische Korrektheit, er geniesst eine Art politischer Immunität, man könnte es auch Narrenfreiheit nennen, im positiven Sinne.
Ich bin froh, mich vor einem Jahr geirrt zu haben.
Niemand hat Rossi zugetraut, 2014 noch einmal die grosse Auferstehung zu schaffen.
Selbst Marc Márquez nicht, wie er kürzlich eingeräumt hat.
Und nichts wäre mir lieber, als wenn Rossi 2015 ernsthaft in den Titelkampf eingreifen könnte.
Vielleicht erleben wir ein spanisches Gemetzel unter Márquez, Lorenzo und Pedrosa, die alle viel zu beweisen haben.
Rossi hat nichts mehr zu beweisen. Mit 36 Jahren und 107 GP-Siegen ist er ein Methusalem im Vergleich zu Márquez (21), Vinales (19) und Miller (18).
Vielleicht schlüpft Valentino Rossi 2015 in die Rolle des Lachenden Vierten.
Dann werde ich mir vielleicht eine neue Kolumne einfallen lassen. Der Titel könnte lauten: «Zehn Gründe, warum Rossi auch 2017 und 2018 MotoGP fährt».