Vor 30 Jahren: Letztes Rennen auf altem Sachsenring
Manfred Fischer (li.) mit Dieter Braun
Beim ersten Rennen nach 18-jähriger Pause mit offizieller Beteiligung von Fahrern aus der noch geteilten Bundesrepublik Deutschland, die Angliederung der DDR erfolgte erst am 3. Oktober 1990, gewann Manfred Fischer.
An dieses auch für ihn sehr spezielle Rennen hat der heute 61-jährige Hanauer natürlich noch sehr gute Erinnerungen. «Es war im Frühjahr 1990. Ich arbeitete, wie so oft, in der Werkstatt an meiner Honda RC30. Das Telefon läutete und am anderen Ende der Leitung hörte ich den Veranstalter vom Sachsenring. Er fragte mich, ob ich auf dem Sachsenring starten wolle. Es sollte die erste Veranstaltung mit Fahrern aus Ost und West und den Superbikes auf dem Traditionskurs sein», blickte Fischer auf den Erstkontakt zurück.
Bis dahin kannte Manfred Fischer den Ostteil Deutschlands nur durch die Transitautobahn nach West-Berlin zum Avus-Rennen und zurück. «Die Grenzer waren immer mürrisch und schlecht gelaunt und durch ihren Auftritt, mit teilweise schwerer Bewaffnung, fühlte man sich immer ganz schön eingeschüchtert und bedrückt.»
Nun war die Mauer weg und Manfred Fischer war sich nach einem kurzen Gespräch mit den Sachsenring-Verantwortlichen einig, wengleich er bis dahin nicht viel über den Sachsenring wusste. «Klar kannte ich Geschichten wie die von Dieter Braun, der da schon gewonnen hatte. Also fragte ich Dieter. Er sagte mir, dass es ein Straßenkurs durch den Ort und durch den Wald ist und dort Massen von Menschen sind.»
Ein Straßenkurs in der DDR mit Menschenmassen erinnerte ihn an Brünn in Tschechien. Auf dem nicht unähnlichen alten Masaryk Ring pausierte die Weltmeisterschaft von 1983 bis 1986. In der Bauphase des neuen Automotodroms gab es auf der alten Strecke aber weiterhin zumindest Europameisterschaftsläufe. 1986 gewann Manfred Fischer dort das Rennen der (Königs-)Klasse bis 500 ccm.
«Ich weiß gar nicht, wie viele Menschen da waren – über 200.000 sagte man, und die meisten von ihnen Ostdeutsche», erzählte Fischer. «Dort hatte ich das erste Mal persönlichen Kontakt mit den DDR-Bürgern. Das waren total motorsportbegeisterte, fachkundige Menschen. Ich war nachts außerhalb des Fahrerlagers auf Zeltplätzen, habe an Lagerfeuern gesessen und viele liebenswerte Menschen kennengelernt. Sie haben mir erzählt, wie es in der Zone ist, und dass sie nur hier den westlichen Rennsport erleben könnten. Ich habe gesehen, wie sie zu fünft in einer Plastikkarre, der sich Trabant nannte, reinquetschten und nach Brünn reisten, um unter anderen mich zu sehen. Ich war von den Menschen und den Umständen, die sie auf sich nahmen, total begeistert und tief beeindruckt. Hey, und nun habe ich die Möglichkeit, sie in ihrem jetzt freien Land zu besuchen und ihnen auf ihrem legendären Sachsenring ein klein wenig von der Begeisterung zurückzugeben.»
Auf der Fahrt zum Sachsenring war sie wieder, die Transitautobahn. Manfred Fischer hatte dabei Angst, dass es ihm den Transporter und den Wohnwagen zerscheppert. «Abfahrt Hohenstein-Ernstthal. Ich fuhr ab und da waren die ersten Fans, die aufgeregt und begeistert winkten. Mir? Kannten sie mich? Erkannten sie mich? Ich hatte gelernt, dass sie fast alles über mich und meinen Sport wussten. Sie kannten das Nummernschild von meinem Transporter, sie kannten die Lackierung, die aktuellen Sponsoren – einfach alles. So wurde ich empfangen. Ich freute mich dort zu sein und fühlte mich irgendwie angekommen im Herzen des Motorsportlandes Sachsen. Die Stimmung war gut, alle lächelten. Wo man hin sah, überall Fahnen und Banner von den meist westlichen Sponsoren, die auszogen, um dort nicht ihr Glück, sondern ihren Profit zu machen. Unter anderen waren viele Hein-Gericke-Banner zu sehen – sehr viele. Da hatte doch dieser windige Rolf S., damals Teamchef bei Hein Gericke und mein Ex-Teamchef (auf Hein lasse ich nichts kommen, er ist ein toller Mensch und war ein super Sponsor) fast die ganze Veranstaltung gekauft. Mit dem Geld von Hein Gericke, denn selber hatte er ja nie welches. Ich bin überzeugt, dass er die Gutgläubigkeit von vielen Menschen zu seinem persönlichen Vorteil ausgenutzt hat.»
Beim ersten Training ging es darum, die Strecke kennen zu lernen. «Im flotten Tempo ging es durch die Häusergassen und durch den Wald. Von Runde zu Runde gefiel mir die Strecke besser. Entweder du hasst sie, oder du liebst sie – und ich liebte sie sofort.»
Dabei war der Ex-Europameister erwartungsgemäß schnell unterwegs. Neben ihm waren «Mr. Superbike» Peter Rubatto und Michael Rudroff, der ebenfalls gute Vorkenntnisse von diversen 500er-WM-Läufen hatte, die namhaftesten Superbike-Akteure. Manfred Fischer fühlte sich nach eigenem Bekunden «…sauwohl hier und fuhr jede Runde schneller. Beim Studium der Trainingszeiten für die Startaufstellung dann der Schreck. Platz 1 und 2 waren beides Hein-Gericke-Fahrer. Peter? Okay, aber der Trainingszweite und Dritte waren auch West-Deutsche, die ich aber nicht einmal kannte – und ich kenne wirklich viele gute Fahrer. Seltsam war, dass meine schnellste Runde, die wir mitgestoppt hatten, fehlte. Naja, ein Schelm, wer Böses dabei denkt, Ich glaube, da hatte wieder mein Freund Rolf S. seine Finger im Spiel. Aber egal, der erste Startplatz interessierte mich nicht mehr, denn ich wusste, dass ich hier schnell fahren konnte. Ganz einfach, wer als Erster über die Ziellinie kommt, gewinnt.»
In der Startaufstellung herrschte ein ganz schöner Trubel. Alles rankte sich um die vermeintlichen Favoriten. Nach dem Start führte zunächst Peter Rubatto vor Manfred Fischer und Michi Rudroff. Noch in der ersten Runde übernahm Rudroff den zweiten Platz. Fischer sortierte sich dann erst einmal hinter den beiden ein. «Ich brachte meine Reifen ordentlich auf Temperatur und studierte die zwei aus der Nähe. Ich sah, wie schnell sie fuhren und wartete ab. In Runde 4 zog Peter das Tempo an und ich überholte Michi. Jetzt hatte ich nur noch Peter als Gegner. Ich überlegte, welche Strategie wohl die beste wäre? Hinterherfahren bis zur letzen Runde und ihn dann austricksen und überholen? Aber was, wenn ich in der letzten Runde einen kleinen Fehler einbaue? Dann hätte ich keine Chance mehr zu gewinnen. Oder gleich überholen und Peter die Chance zu geben, mich zu studieren und das Gleiche mit mir zu machen? Oder viel schneller fahren, so schnell, dass er nicht mithalten kann? Viele Szenarien gingen mir durch den Kopf. Aber mir sollte die Entscheidung abgenommen werden.»
In Runde 7 erwischte er die Badbergkurve perfekt und kam auf dem folgenden Bergaufstück näher an Peter Rubatto ran, dem ein Schaltfehler unterlief. Manfred Fischer nutzte die Gunst der Sekunde und ging mit Geschwindigkeitsüberschuss an ihm vorbei. Danach quetschte er alles aus seiner Honda und sich heraus. Nach einer Runde hatte er knapp zwei Sekunden Vorsprung, den er weiter ausbauen konnte. Zu Beginn der letzten Runde bekam er «+ 4 Sek.» auf die Startnummer 1 angezeigt.
Die letzte Runde hat Fischer noch heute genau vor Augen und beschreibt sie so: «Noch einmal ein paar leichte Kurven vor Hohenstein-Ernstthal, dann rechts über die Eisenbahnbrücke in die Stadt. Eine schnelle Links-Rechts an den Fenstern vorbei. Hartes Anbremsen auf die Badbergkurve, eine Schlüsselstelle. Ich dachte, wenn ich die gut erwische, kann ich den ganzen Schwung mitnehmen. Ausholen, scharf links, hart ans Gas. Das Hinterrad drehte ein wenig durch und dann den Berg hinauf. Zweiter, dritter, vierter, fünfter Gang hin zum obersten Punkt der Strecke, alles Vollgas. Dann die Mutkurve. Volles Rohr über die Kuppe, da wo heute der Blitzer steht. Sechster Gang, den Berg runter zum Teich. Auf den dicken Baum zu, bremsen, zwei Gänge runter und rechts. Dann schön früh ans Gas und durch die schnelle Links. Das Hinterrad fing erneut leicht an durchzudrehen. Mit einem schönen Slight einen schwarzen Strich auf den Asphalt gezogen – schönen Gruß an Dunlop, der Reifen passte. Parallel zur Autobahn. Ganz klein gemacht hinter der Verkleidung. Das schnellste Stück. Fünfter Gang, dann sechster. Der V4 schreit bei 13.100/min, Topspeed 295,8 km/h. Die Autobahn fliegt vorbei. Kurz nach den Sträuchern, es sind heute Bäume, raus aus der Verkleidung, hart in die Bremse. Die Honda windet sich unter den Kräften und will sich verbiegen. Hinein in die Jugendkurve. Zweiter Gang, wieder früh ans Gas, wieder einen schwarzen Strich gezogen. Die RC30 pumpt leicht, aber perfekt erwischt. Jetzt hinunter in die schnelle Links kurz vor dem Wald, dann die ultraschnelle Rechts am Heiteren Blick vorbei. Wichtig, dass ich hier eine saubere Linie hinkriege. Ja, das war auch so eine Mutkurve. Ach ja, die ganze Strecke im Wald war ja mit Strohballen abgesichert. Am Straßenrand wurde ein Maschendrahtzaun errichtet. Wenn du da mit 230 km/h einschlägst, kommst du auf der anderen Seite als unfertige Bulette wieder raus und wirst im Wald versprüht. Dann die kurze Gerade. Nach der kleinen Lichtung hartes Anbremsen und Runterschalten bis in den ersten Gang. Das Hinterrad tanzte und sprang. Das war eine wirkliche Schikane im Gegensatz zu der sonst flüssigen Strecke. Runterbremsen fast bis zum Stillstand, vielleicht 30 km/h, schneller ging die nicht.»
Bemerkung am Rande. Außer, dass nach dem WM-Aus 1972 keine 500er-Maschinen mehr auf dem Sachsenring fuhren, war diese Schikane der Knackpunkt, weshalb der von Giacomo Agostini 1968 aufgestellte Rundenrekord trotz technischem Fortschritt bis zu jenem 8. Juli 1990 nicht gebrochen wurde.
«In der langen Links raus aus dem Wald über die Eisenbahnbrücke. Von hier aus waren die Wiesen rechts und dann links der Strecke mit Zelten übersät. Dann in die letzte lange Rechts. Überall standen Menschen und winkten und jubelten mir zu. Queckenberg, die letzte Links. Spät anbremsen, später als normal, denn es ging hier bergauf, und rein in die Links Richtung Ziel. Sanft ans Gas, die Honda aufs Hinterrad gezogen – einfach nur geil. Wheelie über die Ziellinie, da ist der Mann mit der Zielflagge – gewonnen. Jubel bei meiner Mannschaft und bei den meisten Zuschauern. Mein Körper war voller Adrenalin, die ganze Konzentration und Anspannung fiel von mir ab. Ich genoss die Auslaufrunde, ich genoss die 8,6 Kilometer des Sachsenringes in einem fantastischen Bad in der Menge. Überall wurden Deutschland-Fahnen geschwenkt. Gut, dass ich in diesem Augenblick nichts sagen musste, ich hätte keinen Ton herausgebracht. Zurück bei Start und Ziel. Ich gab meinen Mechanikern das Motorrad in die Hände, umarmte gefühlte 1000 Menschen, lief zur Haupttribüne und warf meine Handschuhe in die Menge. Ich war von der Nähe und der Begeisterung der Menschen total überwältigt. Die Siegerehrung ging runter wie Öl. Ich konnte noch ein paar Worte ans Publikum richten, doch ich weiß heute nicht mehr, ob ich die richtigen Worte gefunden habe. Ich wollte mich einfach ein wenig bedanken für die Unterstützung und die Begeisterung der Fans. Dann die Nationalhymne, die Westdeutsche. Das ist für einen Sportler der bewegenste Moment, und obwohl ich die damalige DDR-Hymne auch echt gut fand, die Westdeutsche war eben die meine.»
Das Rennen hat Manfred Fischer mit 1,8 Sekunden Vorsprung auf Peter Rubatto gewonnen. Die schnellste Rennrunde wurde aber dem Schwaben zugeschrieben. «Das war für mich etwas seltsam, aber es war eben so. Als ich 2014 in Hohenstein-Ernstthal eingeladen war, traf ich unter anderen auch einige Leute der damaligen Zeitnahme. Wir plauderten zwanglos über alte Geschichten, wie und was damals so alles abgelaufen war und über das Wirken des Rolf S. Auf die schnellste Runde angesprochen, und wie diese zustande gekommen war, sagte man mir: ‚Ach weißt du Manfred, damals hat man für einen 100-D-Mark-Schein halt mal eine Zahl vertauscht.‘ Ich hatte irgendwie einen Kloß im Hals, aber so war es eben damals. Doch dieses Vorkommnis, mit dem für mich bitteren Beigeschmack, trübt auch weiterhin nicht meine Verbindung zu dem deutschen Motorsportvolk Nummer 1, den Sachsen. Ich bin stolz darauf, beim letzte Rennen dort gewonnen zu haben und komme immer wieder gerne nach Hohenstein-Ernstthal.»
Dazu hatte der 2018 im Alter von nur 61 Jahren viel zu früh von uns gegangene Peter Rubatto eine andere Meinung. Er sagte im Rahmen eines seiner zahlreichen Sachsenring-Besuche in der Neuzeit: «Zwischendurch war Manfred mal ein Stück weg, doch ich konnte wieder aufholen. Dabei bin ich wohl diese Rekordrunde für die Ewigkeit gefahren.»
Sei es drum, offiziell und in den meisten Sachsenring-Geschichtsbüchern so publiziert, war Peter Rubatto der einzigen Fahrer, der auf dem alten Traditionskurs mit 2:51,2 Minuten gleich 181,220 km/h die 180-km/h-Mauer durchbrochen hat.