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Sebastian Vettel: Ein Grosser verlässt die GP-Bühne

Von Mathias Brunner
Sebastian Vettel

Sebastian Vettel

Ende Juli 2022 stand fest: Sebastian Vettel wird seine Formel-1-Karriere beenden. Nun hat er in Abu Dhabi seinen letzten Grand Prix bestritten. Die Königsklasse verliert einen Mann mit Rückgrat.

Es sind die privaten Momente, ausserhalb der Glitzerwelt der Formel 1, die viel über einen Menschen aussagen. Red Bull Racing-Teamchef Christian Horner erzählte in Abu Dhabi die Geschichte, wie sich Freizeit-Bauer Sebastian Vettel bei einem Züchter ein paar Schafe abholte und einen Esel obendrein.

Horner sagt: «Das Beste an der Geschichte war, dass der Züchter ganz offenbar keinen Schimmer hatte, wer dieser Mann ist. Und dann ist Vettel mit diesem Esel herumspaziert, und Autofahrer machten lange Hälse und trauten ihren Augen nicht: ‘Ist das wirklich Formel-1-Weltmeister Vettel mit einem Esel?’ Ich fand das zum Schreien.»

Das erinnerte mich an eine Geschichte, die mir Michael Schumacher vor Jahren erzählt hat. «Einmal ging ich mit dem Hund spazieren und traf eine Frau, die ebenfalls mit dem Hund unterwegs war. Wir sind ins Gespräch gekommen, haben über dies oder das gesprochen. Und auf einmal sagte sie zu mir: ‚Und was machen Sie so beruflich?’ Sie hatte keine Ahnung, wer ich bin. Das fand ich grossartig.»

Die Wege der Familie Schumacher und Sebastian Vettel sind eng verwoben. Sebastian Vettel hatte als Kart-Junge Poster des grossen Michael Schumacher im Zimmer hängen und sagt: «Ich habe gewissermassen zwei Michael Schumacher kennengelernt. Den einen, als ich aufgewachsen bin, als ich noch ein Bub war, das war, als würdest du den lieben Gott treffen. Und dann erlebte ich ihn als Erwachsener, als ich selber dann auch gross war.»

«Beim einen Mal traf ich den Champion, beim anderen Mal den Menschen Schumacher. Ich habe erfahren, was Michael verkörpert, dann wer er wirklich ist. Ich habe ihn nie neben den Schuhen erlebt (beginnt zu schmunzeln), ausser vielleicht, wenn er sich mal ein paar Drinks gegönnt hat. Ich habe ihn nie wütend gesehen. Ich habe ihn nie etwas sagen gehört, das keinen Sinn ergeben hätte. Er hatte immer alles unter Kontrolle. Es spielte keine Rolle, ob er in einem Kart sass, in einem Buggy beim Race of Champions oder in einem GP-Renner – bei ihm hattest du immer den Eindruck, dass er Herr der Lage ist.»

Als Michaels Sohn Mick Schumacher in die Formel 1 kam, übernahm Sebastian die Rolle des väterlichen Freunds, der dem aufstrebenden Piloten mit Rat und Tat zur Seite steht.

Keine Reue über Rücktritt

Sebastian Vettel hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er seinen Sport anhaltend liebt. Es ist eher der tiefe Wunsch, mehr Zeit für die Familie zu haben und neue Herausforderungen zu suchen, der ihn zum Rücktritt bewogen hat – nach langer, sehr langer Überlegung.

Wenn Vettel 2022 um Podest-Ränge mitgeredet hätte, wäre dann alles anders gekommen? Vettel ehrlich: «Ich weiss es nicht. Vielleicht wäre ich zur gleichen Entscheidung gelangt, möglicherweise hätte ich es nicht getan – es ist unmöglich, das zu sagen. Was ich wichtig finde: Man muss sich selber treu bleiben. Ich liebe es zu gewinnen. Das klingt selbstsüchtig und egoistisch, aber das Gewinnen treibt mich an. Und das war leider nicht möglich.»

Mit einer bewegenden Rede hat Sebastian Vettel in vergangenen Sommer erklärt, warum er Ende 2022 seinen Helm an den Nagel hängen wird – der 35-jährige Deutsche will lieber seine Kinder aufwachsen sehen, als noch weiter Energie in die Formel-1-Karriere zu investieren.

Damit bleibt Vettel sich selber treu: Er hat immer ungewöhnliche Entscheidungen getroffen, dabei auf die Menschen gehört, die ihm wichtig sind und letztlich darauf, was er vernimmt, wenn er in sich selber hineinhorcht.

«Ich bin stur und ungeduldig und kann sehr nervig sein», gibt der 53-fache GP-Sieger zu. «54 Siege», pflegt dann der Heppenheimer an diesem Punkt zu korrigieren. «Denn 2019 in Kanada habe ich gewonnen, nur dass mir danach die Rennleitung den Sieg weggenommen hat.»

Es war eine der ganz wenigen Momente, in welchen ich erlebt habe, dass Vettel wirklich die Fassung verloren hat, damals in Montreal.

Die Rennleitung gab ihm eine Fünfsekundenstrafe, er war mit seinem Ferrari kurz neben der Bahn gewesen und hatte sich dann vor Hamilton wieder eingereiht.

Im Parc fermé nach dem Kanada-GP schnappte sich Vettel die Tafel P1 und stellte sie vor seinen Ferrari. Diese Bilder gingen um die Welt.

Vettel konnte im Rennen von Leidenschaft übermannt werden, das war einer der Gründe, wieso ihn die Mitarbeiter von Ferrari liebten. Dies und die Tatsache, dass er sich die Mühe machte, italienisch zu lernen.

Ein loderndes Feuer

Vettel konnte im Rennen loderndes Feuer zeigen. Dann meldete er sich am Funk und schimpfte: «Blaue Flaggen! Blaue Flaggen!» Wenn einer nicht schnell genug zur Seite ging. Wenn ihm einer auf der Bahn blöd kam, feuerte er ab: «Ehrlich jetzt!»

Und keiner sollte bei tollen menschlichen Werten wie Ehrlichkeit, Fleiss, Toleranz oder Einfühlungsvermögen vergessen, welch eiserner Siegeswille Vettel zeigen konnte. So als er damals in Malaysia die Red Bull Racing-Stallorder ignorierte und sich an Mark Webber vorbeipresste. Vettel nach dem Rennen: «Unterm Strich ist es ganz einfach – ich war schneller, ich überholte, ich gewann.»

Sebastian Vettel ist nicht einer der erfolgreichsten Formel-1-Rennfahrer geworden, weil er Gegner höflich vorbeiwinkt.

Nur Lewis Hamilton und sein Vorbild und Freund Michael Schumacher haben mehr WM-Läufe gewonnen. Nur Hamilton, Schumi und Senna haben mehr Pole-Positions erobert. Nur Hamilton hat mehr Punkte eingefahren.

Aber es sind nicht die Zahlen, die Vettel ausmachen, es sind seine Werte: Sich selber gegenüber treu, immer über den Tellerrad des Motorsports hinausblickend, klar in seinen Ansichten, auch wenn die unbequem sind, mit einer vorbildlichen Arbeits-Einstellung – Vettel war immer einer der ersten an der Rennstrecke und einer der letzten, welche die Piste verlassen haben.

Die Mechaniker von Ferrari liebten ihn auch deshalb, weil sie erkannten, wie wichtig ihm Rennhistorie ist. Vettel ist wohl der einzige Formel-1-Fahrer, der alle Weltmeister aufzählen kann, in der richtigen Reihenfolge obendrein.

Die Mechaniker von Red Bull Racing und Aston Martin liebten ihn, weil sie es mit einem Mann zu tun hatten, der aus dem Nichts heraus Zitate aus englischen Fernsehserien abfeuerte, «und weil er ein besseres Englisch spricht als Nigel Mansell», wie mir ein Mechaniker einmal lachend gesagt hat.

Christian Horner ergänzt: «Unsere Leute haben sich gekugelt über seine Parodien. Vettel konnte die drolligsten englischen Dialekte nachmachen, unsere Mechaniker haben ihn vergöttert. Und wenn Seb seine Leute zum Lachen bringen konnte, hat sein Gesicht geleuchtet vor Freude.»

Harte Jahre bei Ferrari

Aber mit der Zeit ist Vettel in der Formel 1 das Lachen vergangen: Bei Ferrari stand ihm jahrelang Lewis Hamilton vor der Sonne, die Italiener waren nicht imstande, ein übers ganze Jahr über so gutes Auto zu bauen, dass Vettel 2015 und 2017 den Titel hätte holen können, die Liebe zum Deutschen erkaltete.

Letztlich hat Sebastian Vettel sein grosses Ziel verpasst – wie sein Idol Michael Schumacher Weltmeister mit Ferrari werden.

Bei Aston Martin wurde klar: Es gibt keine Abkürzung zum Erfolg, es wird wohl Jahre dauern, bis die Grünen aus eigener Kraft siegfähig sind. Das wollte sich Vettel nicht mehr antun.

Anzeichen für Formel-1-Müdigkeit

Ein klares Zeichen, dass seine Zeit in der Formel 1 abläuft, war für mich die Fahrerbesprechung am Red Bull Ring: Als ihm die Diskussion zu langatmig wurde, stand Vettel auf und ging. Dafür wurde ihm später eine Strafe von 25.000 Euro aufgebrummt, die bis zum Saisonende zur Bewährung ausgesetzt ist.

Vettel hat im Grunde die Geduld mit der Formel 1 verloren, andere Themen sind ihm wichtiger geworden. Thema wie Gleichheit, Freiheit bei sexueller Ausrichtung, Umweltschutz. Nur Lewis Hamilton hängt sich bei solchen Themen mit annähernd so viel Herzblut rein wie der Deutsche.

Welcher andere Fahrer wäre bitteschön am Abend nach einem britischen Grand Prix auf eine Tribüne gegangen, um Abfall aufzuklauben?

Welcher andere Fahrer hätte die Fahrer zusammengetrommelt, um einen Protest gegen den russischen Einmarsch in der Ukraine zu veranstalten?

Welcher andere Fahrer hätte die Formel-1-Leitung dazu gedrängt, auf Wegwerf-Plastikflaschen zu verzichten?

Welcher andere Fahrer hätte Sky-Reporter Ted Kravitz zusammengestaucht, als der Engländer ein Reglement-Detail mit einem Stück Käse veranschaulichen wollte? Vettel damals: «Musstest du dafür wirklich Lebensmittel verwenden? Hätte es ein Stück Karton nicht auch getan?»

In Ungarn 2021 zeigte er mit Regenbogen auf Schuhen, Helm und einem T-Shirt kraftvolle Verbundenheit mit der LGBTQ-Gemeinde und sprach sich mehrfach gegen eingeschränkte Rechte in Ungarn aus. «Jedem Menschen sollte es erlaubt sein, zu lieben, wen immer er will. Ich verstehe nicht, wieso wir heute über so etwas überhaupt noch diskutieren müssen.»

Solche Anliegen sind Sebastian Vettel wichtiger geworden als Untersteuern, abbauende Reifen oder das mangelnde Ansprechverhalten seines Motors.

Das neue Leben

Es war für mich auch Zeichen des kommenden Abschieds, wie Vettel sichtlich Spass hatte, in Silverstone einen 1992er Williams oder in Le Castellet einen 1922er Aston Martin zu fahren. Da leuchteten die Augen von Sebastian wie bei einem Kind zu Weihnachten.

Die ganze Plackerei in der Formel 1, mit wenig Aussicht, dass Aston Martin so bald Rennen gewinnt, das wollte sich Vettel nicht mehr antun.

Vettel sagt: «Neben dem Rennsport habe ich eine Familie und schätze die gemeinsame Zeit. Weiter habe ich viele andere Interessen. Meine Leidenschaft für die Formel 1 geht einher mit einem hohen Zeitaufwand. Zeit, die ich mit meiner Familie verbringen möchte.»

«Die Energie, die es braucht, um mit dem Auto als auch dem Team eins zu werden, erfordert Konzentration und Anstrengung. Mich der Formel 1 so zu widmen, wie ich es in der Vergangenheit getan habe, wie ich es für richtig halte und ein guter Vater und Ehemann zu sein, passen für mich nicht mehr zusammen.»

«Meine Ziele haben sich verändert: weg von Rennsiegen und um Meisterschaften zu kämpfen, hin zu meinen Kindern. Ich möchte sie aufwachsen sehen, ihnen meine Werte weitergeben, ihnen zuhören und mich nicht mehr verabschieden müssen.»

Nun muss er das nicht mehr tun: Abu Dhabi war sein letzter Formel-1-Einsatz. Was immer Vettel machen wird, ich weiss – er wird sich mit der gleichen Leidenschaft und Arbeitsethik auf seine neuen Aufgaben stürzen.

Sebastian Vettel sagt in Abu Dhabi: «Ich hatte das grosse Privileg, nicht nur all diese Erfolge einfahren zu dürfen. Ich hatte viele fabelhafte Menschen als Wegbegleiter, einige davon sind an diesem Wochenende hier, und das ist gewiss etwas, das mir fehlen wird, der Mannschaftsgeist, die Kameradschaft.»

Formel-1-Weltmeister Jenson Button sagte zu Vettel im Fahrerlager des Yas Marina Circuit: «Champ, du kannst sicher sein, dass es so manchen Fan gibt, der am Ende des Abu Dhabi-GP ein Tränchen verdrücken wird.»

Seb antwortete: «Mir wird es vermutlich gleich gehen. Und das ist etwas, was mir sehr wichtig ist. Wenn du ein junger Pilot bist, dann träumst du natürlich von Erfolgen. Aber womit ich nie gerechnet hätte – dass ich so erfolgreich sein würde und dass vor allem so viele Menschen auf der ganzen Welt darauf achten, was ich mache. Das hat mich immer wieder aufs Neue berührt.»

Zwei Worte fassen die Stimmung im Formel-1-Fahrerlager am besten zusammen, was Sebastian Vettel und seinen GP-Abschied angeht. Sie waren an die Wand in der Aston Martin-Box geschrieben, und wir schliessen uns gern an.

Danke, Seb.

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