Überholen in der Formel 1: Zahlen belegen das Problem
In loser Reihenfolge gehen wir in Form von «SPEEDWEEKipedia» auf Fragen unserer Leser ein. Dieses Mal will Peter Ullmer aus Kiel wissen: «Vor der Saison 2017 war viel davon die Rede, dass die neuen, breiten Autos das Überholen in der Formel 1 noch schwieriger machen würden. Der Australien-GP schien das zu bestätigen – mit nur wenigen Überholmanövern. Bei den darauffolgenden Rennen ist es um diese Diskussion ruhiger geworden. Aber was sagt eigentlich die Statistik? Wo stehen wir denn zur Sommerpause in Sachen Überholmanöver gemessen an 2016?»
Wir blenden zunächst zurück. Einer der Aufreger nach dem Formel-1-Saisonbeginn in Australien: Hat sich die Formel 1 mit der neuen Rennwagengeneration ein riesiges Problem geschaffen? Ist das Überholen so schwierig geworden, dass wir in den Rennen nur noch fade Kost serviert erhalten? Wer sich nach Melbourne Sorgen gemacht hatte, durfte nach Shanghai ruhiger schlafen – wir sahen reichlich Überholmanöver gesehen und tolle obendrein. Die FIA reagierte ebenfalls und verlängerte teilweise jene Zonen, in welchen der verstellbare Heckflügel flachgestellt werden darf.
Dem 158fachen GP-Teilnehmer Martin Brundle, Formel-1-Experte der britischen Sky, stellte fest: «Die Fahrer mussten umdenken. Früher hast du darauf gewartet, dass ein Gegner wegen Reifenproblemen langsamer wird oder ohnehin zur Box abbiegt. Oder du hast dich auf deinen verstellbaren Heckflügel verlassen. Nun hatten wir auf der langen Geraden von Shanghai aber erkannt – selbst mit flach gestelltem Flügel ist es nicht so einfach, sich in den Windschatten des Gegners zu arbeiten. Also müssen sich die Piloten etwas einfallen lassen. Du musst dir den Gegner an einer gewissen Stelle zurechtlegen oder ihn mit einem Angriff überrumpeln. Ja, wir sehen weniger Manöver als früher, aber jene Attacken, die wir erleben, das sind richtige Angriffe, keine künstlichen, die nur wegen des Heckflügels zustande kommen.»
«Mir ist lieber, wir sehen eine Attacke, über die wir nachher begeistert diskutieren – statt dieses mühelosen Vorbeifahrens, das wir mit dem DRS oft erlebt haben. Da die Bremszonen kürzer geworden sind, müssen sich die Piloten auch hier was einfallen lassen. Mut und Einfallsreichtum sind gefragt. Also mir gefällt das.»
Aber was sagt nun die Statistik?
Sehen wir uns die Anzahl Überholmanöver von Rennen zu Rennen kurz an:
Australien: 14 (beim GP 2016 waren es 50)
China: 54 (182)
Bahrain: 48 (125)
Russland: 18 (21)
Spanien: 36 (64)
Monaco: 9 (34)
Kanada: 36 (34)
Aserbaidschan: 137 (65)
Österreich: 51 (70)
England: 55 (39)
Ungarn: 14 (34)
Wir erkennen: Ja, es ist ohne Zweifel schwieriger geworden zu überholen. Aber es gibt auch Rennen mit umgekehrter Tendenz, wie in Silverstone, dazu natürlich chaotische Grands Prix, wo ohnehin alles drunter und drüber geht, wie in Baku 2017. In Kanada sind die Zahlen stabil geblieben.
Selbst wenn Martin Brundle nach dem Australien-GP vor Panikreaktionen gewarnt hatte, sieht sich Ross Brawn die Situation genau an. Der frühere Weltmeistermacher von Michael Schumacher bei Benetton und Ferrari ist bei der FOM (Formula One Management) für die Entwicklung der Technik zuständig.
Und ganz hoch auf der Prioritätenliste von Ross steht das Überholen. «Ein komplexes Problem. Wir wollen nicht zurück zu langsameren Autos. Wir wollen also das Haftungsniveau von 2017 behalten. Aber wir wollen Rennwagen, welche die Luft nicht auf eine Art und Weise verwirbeln, die es dem Hintermann so schwermacht, dichtauf folgen zu können. Ich glaube: Wenn wir die richtigen Leute an so eine Aufgabe setzen, und wir geben ihnen zwölf bis achtzehn Monate, dann finden die eine Lösung.»
«Ich weiss, dass wir das schon einmal versucht haben, im Rahmen der so genannten Arbeitsgruppe Überholen. Aber damals hatten wir nicht das Wissen, das wir heute haben. Computer-Simulationen haben enorme Fortschritte gemacht, das gibt uns zusätzliche Möglichkeiten, das Problem an der Wurzel zu packen.»
«Mir ist klar, dass es Leute geben wird, die sagen – das ist nicht zu machen. Aber das glaube ich nicht. Ich glaube vielmehr, dass wir uns bisher einfach noch nicht mit aller Kraft hinter dieses Problem geklemmt haben.»