History Singapur-GP: Der besoffene Pistenläufer
Sebastian Vettel traute seinen Augen nicht
Das mit dem Verschwinden hat damals freilich nicht so gut geklappt, wie es sich Yogvitam Pravin Dhokia wohl gewünscht hätte – kurz nach seinem idiotischen Auftritt wurde der Brite verhaftet. Im November 2015 wurde Dhokia zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt, darüber hinaus musste er 2500 Singapur-Dollar Geldstrafe zahlen, damals rund 1600 Euro.
Dhokia hatte sich schuldig bekannt, mit seinem Ausflug auf die Rennstrecke während des Singapur-GP die fahrlässige Gefährdung von Leben in Kauf genommen zu haben. Dhokia wurde die Zeit in Untersuchungshaft angerechnet, so dass er noch vor Jahresende wieder auf freiem Fuss war und das Land verlassen konnte. Die ganze Aktion hatte er durchgeführt, um Videos von den vorbeifahrenden Boliden zu machen. Dazu hatte er sich gemäss eigener Angaben tüchtig Mut angetrunken.
Der Automobil-Weltverband FIA leitete eine Untersuchung gegen die Organisatoren des Singapur-GP ein. Für den Singapur-GP 2016 wurde das Sicherheitsprotokoll der Rennstrecke überarbeitet. Es gab mehr Personal entland der Bahn und zusätzliche Zäune. Insgesamt wird es einer verwirrten Seele heute so schwergemacht, die Piste zu betreten, dass ein solcher Vorfall sehr unwahrscheinlich ist.
Unwahrscheinlich, aber nicht unüblich: Wenn wir zurückblicken, müssen wir froh sein, dass es dabei nicht Dutzende von Toten gegeben hat! Jahrelang war eine Pisteninvasion der ganz normale Abschluss jedes Grossen Preises von Italien in Monza. Viele Tifosi nahmen es mit dem Fallen der Zielflagge nicht so genau. Solche Szenen spielten sich auch in Hockenheim oder Silverstone ab.
Apropos Silverstone: Unvergessen der frühere Geistliche Cornelius «Neil» Horan, der im britischen Grand Prix 2003 auf die Silverstone-Strecke rannte, um auf die Worte des Herrn aufmerksam zu machen (auf seinem Schild stand: «Lest die Bibel. Die Bibel hat immer Recht»). Das Einzige, was wirklich nah war, war sein eigenes Ende: Der Jaguar von Mark Webber verpasste den irren Priester nur um Haaresbreite.
In seiner Autobiographie «Aussie Grit» schrieb Webber: «Es war das Unglaublichste, was ich je auf einer Rennstrecke gesehen habe. Mir war völlig einerlei, wofür der Kerl protestieren wollte – er brachte sich, mich und andere in Lebensgefahr. Es machte mich fuchsteufelswild, dass er das in Kauf nahm.»
Aber gegen den Wahnsinn von Mexiko 1970 waren Singapur oder Silverstone Kinderkram. Damals hiess die mexikanische Piste Magdalena Mixhuca, die Piste wurde erst nach dem Tod von Pedro Rodríguez in den 70er Jahren umbenannt. Zuvor hiess sie nach dem dortigen Park Magdalena Mixhuca, das wiederum geht zurück auf die Kirche Santa María Magdalena Mixhuca, die der heiligen Maria Magdalena gewidmet ist. Der Name Mixhuca bedeutete bei den Ureinwohnern so viel wie Geburtsort. Auch eine U-Bahnstation im heutigen Mexiko-Stadt heisst heute noch so.
Vermutlich wachte Maria Magdalena 1970 besonders aufmerksam über der Rennbahn. Denn 200.000 Fans wollten sich das Geschehen nicht entgehen lassen, und als viele von ihnen merkten, dass sie wohl nicht aufs Gelände kommen würden, trampelten sie kurzerhand die Zäune nieder und hockten sich zufrieden an den Rand der Rennstrecke ins Gras.
In der Rennleitung wurde erwogen, das Rennen platzen zu lassen. Aber die mexikanischen Organisatoren fürchteten Randale, wenn der Menge nichts geboten würde. Einigen dauerte das alles sowieso schon viel zu lang. Also warfen sie Flaschen und dergleichen auf die Bahn.
Lokalheld Pedro Rodríguez und Weltmeister Jackie Stewart wurden auf die Bahn geschickt, um den Fans ins Gewissen zu reden. Wenn Stewart und ihr Idol Pedro vor ihnen standen, nickten die Fans, begaben sich brav hinter die Leitschienen, und sobald der Schotte und sein mexikanischer Rennfahrerkollege ausser Sicht waren, rückten sie wieder auf die Grasnarbe vor.
Nach weiterer Verspätung (wegen der Scherben auf der Bahn) wurde das Rennen freigegeben, und die mexikanischen Esel störte es nicht weiter, dass Autos mit 300 Sachen an ihnen vorbeibrausten. Stewart überfuhr dann tatsächlich einen Pistenbesucher – einen streunenden Hund. «Es ging so schnell, dass ich nichts machen konnte.»
Inzwischen hatten die ersten Fans begonnen, die Piste zu überqueren. Sie fanden vermutlich, von der anderen Seite hätten sie wohl eine bessere Sicht. Als für Jacky Ickx vor Clay Regazzoni endlich die Zielflagge gefallen war, gab es kein Halten mehr, vor lauter Menschen war das Asphaltband nicht mehr zu erkennen. Einige Fahrzeuge blieben auf der Auslaufrunde in der Menge stecken.
Der Autoverband nahm zur Strafe das Rennen aus dem Kalender, erst 1986 wurde wieder in Mexiko ein WM-Lauf durchgeführt.