Max Verstappen gegen Lewis Hamilton: FIA versagt
Lewis Hamilton: Wo hört die Piste auf?
Es liegt in der Natur des Rennfahrers, den kürzesten Weg von A nach B zu suchen. Immer wieder erweitern die Formel-1-Fahrer dabei den Weg am eigentlichen Asphaltband vorbei, um ihre Linie zu optimieren oder mehr Schwung für die folgende Kurve zu holen. Bestes Beispiel: Der Ausgang von Kurve 4 in Bahrain, wo die Attacke von Max Verstappen auf Lewis Hamilton beim WM-Auftakt von Bahrain 2021 anhaltend heisse Köpfe erzeugt.
Zum Teil reagierte die FIA auf das ständige Neben-der-Bahn-Fahren mit Kunststoff-Elementen, die so platziert werden, dass das Abkürzen unattraktiv wird. Das erwies sich bisweilen als Eigentor. Einige Fahrer handelten sich an solchen Elementen Aufhängungsschaden ihrer Fahrzeuge ein, weil Formel-1-Querlenker für solche Belastungen nicht konstruiert sind.
Der Autosport-Weltverband FIA ging zur elektronischen Überwachung über: In gewisse Kurven werden Messschlaufen in den Boden gelegt – wer hier abkürzt, vom elektronischen Polizisten ohne Zweifel überführt, dessen Rundenzeit wird im Training gestrichen, und der Sünder muss im Rennen nach zwei Warnungen mit einer Strafe rechnen.
Aber eben nicht immer, wie sich im ersten Saisonrennen 2021 zeigte. Viele Fans fragen sich: Wie kann es sein, dass Lewis Hamilton in Bahrain 29 Mal am Ausgang von Kurve 4 eine viel zu weite Linie fährt, bevor eine Warnung der Rennleitung kommt? Wie kann dies nicht als Erlangen eines Vorteils eingestuft werden, wenn Max Verstappen später wegen der gleichen Linie einen Platz an Hamilton zurückgeben muss und so den Bahrain-Sieg verliert?
Formel-1-Rennleiter Michael Masi hat sich so verteidigt: «Was das Verlassen der Strecke während des Rennens angeht, wurde den Fahrern und den Team-Managern deutlich kommuniziert, dass wir das nicht ahnden werden, so lange sich ein Fahrer dadurch keinen nachhaltigen Vorteil verschafft.»
Betonung also auf «nachhaltigen Vorteil». Das ist sehr bequem schwammig formuliert, ein Gummi-Paragraph, der nach Belieben verdreht werden kann.
Red Bull Racing-Teamchef Christian Horner ärgert sich. Der Engländer kann nicht verstehen, wieso wir das leidige Thema Pistengrenzen in der Königsklasse nicht in den Griff bekommen.
Horner sagte in einer Videokonferenz nach dem Bahrain-GP: «Als Mercedes Tempo aufnahm, nutzten sie den angesprochenen Pistenbereich. Also haben wir natürlich bei der Rennleitung angeklopft, ob das okay sei. Wir reden hier immerhin von zwei oder drei Zehntelsekunden, die sich jede Runde gewinnen lassen.»
Oder anders gesagt: Mal 29 ergibt dies aufgerundet zwischen sechs oder neun Sekunden Zeitgewinn. Nicht zu verachten in einer Formel 1, in welcher es auf jede Zehntelsekunde ankommt.
Horner weiter: «Erst dann kam eine Warnung an Mercedes, bitteschön die Pistengrenzen einzuhalten. Wir brauchen hier endlich Beständigkeit. Wir brauchen hier schwarz oder weiss und nicht verschiedene Abstufungen von grau. Ich finde das alles frustrierend.»
Horner ist nicht alleine: In den sozialen Netzwerken äussern auch viele Formel-1-Fans zunehmend Unverständnis über das Dauerthema Pistengrenzen und die Unfähigkeit der FIA, hier klare Vorgaben mit auf den Weg zu geben.
Aber sollte uns dies wundern? Rennleitung und Rennkommissare fahren bei grenzwertigem Verhalten von Formel-1-Piloten seit Jahren einen unverständlichen Schlingerkurs.
Ein Beispiel: In der MotoGP werden zwischen Piloten wie Jack Miller und Joan Mir in Doha 2021 schon mal die Ellenbogen ausgefahren, und zwischen den Zweirad-Artisten knistert es auch nach dem Rennen gewaltig. Die Rennleitung bleibt gelassen und stuft das Rennzwischenfall ein. Das sind exakt jene Szenen, welche die Fans packen, denn Motorsport sollte Emotionen schüren.
Das Duell hat mich erinnert an den rundenlangen Zweikampf zwischen Gilles Villeneuve und René Arnoux in Dijon 1979, mit mehreren Berührungen zwischen dem Ferrari und dem Renault, im Kampf um Rang 2. Danach lagen sich die Rauhbeine lachend in den Armen und klopften sich anerkennend auf die Schultern, und die Fans reden heute noch von diesem grandiosen Kampf, während sich kaum einer an den Sieger erinnert (es war der erste Turbo-Sieg in der Formel 1, von Jean-Pierre Jabouille im Renault).
Heute würden Haudegen wie Villeneuve und Arnoux für die ganze Felgenschleiferei vermutlich für ein Rennen gesperrt.
Die FIA versteht es seit Jahren nicht, hier einen klugen Kompromiss zu finden. Stattdessen gab es jahrelang bei der leisesten Berührung zweier Autos und beim kleinsten fliegenden Kohlefaser-Fitzelchen eine Strafe. So wird beinharter Sport nicht gefördert, sondern im Keim erstickt.
Ergebnis: Piloten scheuen sich vor Fahrzeugkontakt, überholt wird durch Strategie und bei Boxenstopps statt auf der Bremse und mit Körperkontakt.
Der Sport wird künstlicher, einem Videospiel immer gleicher, und der Umbau vieler Rennstrecken hat diesen Eindruck zusätzlich gefördert – mit Auslaufzonen, so gross wie Supermarkt-Parkplätze.
Kleine Ausrutscher werden nicht mehr bestraft. Früher, so finden viele Fans völlig richtig, war mehr Präzision gefragt.
Der vierfache Formel-1-Champion Sebastian Vettel macht sich dafür stark, dass in der Formel 1 wieder vermehrt Kiesbetten angelegt werden: «Als Fahrer sind wir der Ansicht – Fehler gehören bestraft. Das würde alles einfacher machen. Wir haben uns eine Mischlösung überlegt: Rennstrecke, dann ein Band aus Kies, damit es an jener Stelle einfach keinen Vorteil bringt, die Pistengrenze zu übertreten, dahinter eine Asphaltfläche. Aber ausschliesslich Asphaltflächen anzulegen, das nimmt vielen Strecken ihren Charakter.»
Der dreifache GP-Sieger Johnny Herbert sagt: «Früher standen entlang der Piste Bäume. Kein Wunder, war das Abkürzen damals keine besonders weise Idee. Aber so viel ich weiss, fährt in Monte Carlo noch heute keiner hinter der Leitschiene und in Singapur auch keiner hinter den Beton-Elementen. Also wissen die modernen GP-Piloten durchaus, wie man sich an Pistengrenzen hält. Wir müssten das nur clever umsetzen.»