KTM: Im Werk gingen die Lichter aus

Dan Gurney in Belgien 1966: Stoppen, parken, pinkeln

Kolumne von Mathias Brunner
​Einige ewig Gestrige beteuern: Früher war alles besser. Das ist natürlich Quatsch. Früher war aber definitiv alles anders. Das beweist auch das Verhalten von Rennlegende Dan Gurney im Belgien-GP vor 50 Jahren.

Die 60er Jahre auf dem alten Ardennenkurs von Spa-Francorchamps habe ich leider verpasst. Da steckte ich noch im Laufgitter. Seit ich anfangs der 80er Jahre erstmals diese herrliche Naturrennstrecke erkundet habe, haben sich das Leben und die Formel 1 grundlegend geändert. Wir sind von der Schreibmaschine zu den ersten tragbaren Computern (Stichwort Tandy 200) zum heutigen Apple-Laptop und Smartphone geschritten. Telex-Lochstreifen und Faxgeräte stehen nicht mehr beim Mediensaal, sondern im Museum, wo sie auch hingehören. Die Welt hat sich enorm beschleunigt, nicht in jeder Hinsicht zum Vorteil.

Was ich am meisten bedauere: Früher konnten die Formel-1-Fahrer eher Typen sein, Begriffe wie politische Korrektheit oder Verhaltenskodexe waren unbekannte Begriffe. Die Piloten liessen nicht nur die Sau raus, sondern auch mal die Hose runter. Die Journalisten gingen mit heiklen Situationen verantwortungsvoll um, es herrschte ein gesundes Vertrauensverhältnis.

Was heute in Sekundenschnelle via Twitter, Snapchat, Facebook oder Instagram zum weltweiten Aufreger würde, erzeugte damals höchstens ein nachsichtiges Achselzucken.

Zeitsprung um 50 Jahre, wir sind in Spa-Francorchamps.
Die amerikanische Rennlegende Dan Gurney blendet zum Belgien-GP 1966 zurück: «Ich hatte mich vor dem Start zum Grand Prix auf dem Berg- und Talkurs ziemlich durstig gefühlt. Und da ich mich davor fürchtete, im Rennen zu dehydrieren, schüttete ich eine ordentliche Menge Wasser die Gurgel hinunter. Das Problem war dann: Nach einiger Zeit begann sich die Blase zu melden …»

Im Grunde hätte der Amerikaner nun tun sollen, was auch für Astronauten keine Schmach war – dem Ruf von Mutter Natur folgen und einfach laufen lassen. Gurney: «Das wollte ich ja, aber es ging einfach nicht. Doch der Körper lässt sich nicht austricksen. Ich musste etwas unternehmen. Also hielt ich an einer recht einsamen Stelle an, um mich zu erleichtern. Recht einsam bedeutet: Ausser ein paar Menschen bei einem Bauernhof war weit und breit keiner zu sehen, irgendwo muhte eine Kuh.»

Gurney legte ein Stein unters Hinterrad seines Eagle, liess den Motor im Leerlauf vor sich hin brummen und – spürte unendliche Erleichterung.

Zur Erinnerung: Wir reden hier von der Epoche vor Einführung der Siebenpunkt-Gurte, die Fahrer konnten also nach Belieben aus ihren Wagen springen.

Gurney stieg wieder ein und wurde Siebter.

Aber Rennfahrer sind nicht immer so einsam wie Dan Gurney vor fünfzig Jahren in den Ardennen.

Sir Stirling Moss erinnert sich: «Ich bestritt ja zusammen mit Denis Jenkinson die Mille Miglia 1955. Im Training überlegten wir uns, was wir in Sachen Pinkelpause unternehmen sollten. Wir probierten sogar, mit Zeitmessung, den Wagen rasch hinzustellen und hinter ein Gebüsch zu hechten, aber das dauerte uns alles zu lange. Also sagten wir uns: Es kann ja nicht so schwierig sein, bis ins Zwischenziel von Rom zu warten, es sind schliesslich nur fünf Stunden hinterm Lenkrad.»

Moss beginnt zu lachen: «Was wir nicht bedacht hatten – dort warteten rund 50000 Fans, um den Tankstopp zu bebachten! Also rannten wir hinter die Tribüne. Ich glaube, der Halt hat – einschliesslich unserer Show-Einlage – nur etwas mehr als eine Minute gedauert. Darauf waren wir fast ein wenig stolz.»

Eine weitere Renn-Legende – Sir Jack Brabham – hat Jahre nach Abschluss seiner grossen Karriere verraten: «In Le Mans 1958 teilte ich das Cockpit eines Cooper mit Ian Raby. Ich war gerade am Fahren, aber ich wusste, es würde noch eine Weile dauern, bis ich zum Tankstopp an die Box kommen kann. Meine Blase war am Platzen. Was tun? Ich hielt an einer langsamen Stelle an und verschwand ins Unterholz …»

Was der Australier leider nicht wusste: Die Franzosen setzten beim Rennklassiker in der Sarthe erstmals einen Hubschrauber ein, um den Zuschauern ungewöhnliche Bilder in die Flimmerkiste zu schicken. Und ungewöhnliche Bilder erhielten die Franzosen bei Gott …

Brabham lacht: «Zum Glück hatten wir an den Boxen keine TV-Geräte. Aber Teamchef John Cooper war natürlich nicht hinters Licht zu führen. Er fragte mich später, wieso zum Geier eine meiner Runden so langsam gewesen war …»

Der frühere Teamchef Ken Tyrrell, den wir vor fünfzehn Jahren an den Krebs verloren haben, erzählte eine Anekdote aus Monza 1964: «Ich habe damals das Mini-Werksteam in der Tourenwagen-EM geleitet, weil sich John Cooper nach einem üblen Unfall erholen musste. Es war ziemlich spät im Rennen, als einer unserer Fahrern, Warwick Banks, an die Box kam und Anstalten traf, sich abzuschnallen. „Was machst du?” habe ich ihn erstaunt gefragt. Warwick meinte: „Nun, ich muss mal.” Ich habe ihn sofort wieder ins Auto geschubst und ihn angeblafft: „Dann pinkel gefälligst ins Auto! Wir versuchen hier eine Meisterschaft zu gewinnen, um Himmels Willen …“»

Vor dem Pinkeln wurde in der Regel tüchtig gebechert. Die Partys in den 50er und 60er Jahren waren legendär.

Eoin Young, Buch-Autor und Wegbegleiter des Teamgründers Bruce McLaren, hat uns erzählt: «In Reims gab es ein Lokal, in dem sich jeweils alle trafen, das war Brigitte’s Bar. Nach Mike Hawthorns Sieg von 1958 standen wir dort herum und beäugten die hübschen Französinnen. Auftritt von Mike, das Herz jeder Party! Als Erstes schnappte sich Mike seinen Kumpel Peter Collins. Das Objekt ihres Schalks war die Skulptur irgend eines Adeligen, die im Garten stand. Sie stellten sie mitten auf die Tanzfläche, schminkten sie und klemmten ihr eine Kippe zwischen die Marmorlippen. Sie fanden dann aber doch, dass noch etwas fehlte, also musste John Cooper Hosen und Jackett hergeben, um die Büste ordentlich zu kleiden. John selber hatte kein Problem damit und nahm seinen Zustand in Unterhosen und Socken zum Anlass, spontan einen russischen Volkstanz zu zeigen …»

Bruce McLaren erzählte Young später dazu: «Aber das war alles nur der Anfang. Mike fand nun, ein gewaltiger Blumentopf würde gewiss ein lustiges Spielzeug hergeben. Bedauerlichweise kippte der Kübel um, als Mike versuchte, ihn ins Zentrum unseres Schabernacks zu zerren. Es gab eine ziemliche Sauerei. Mike schnappte sich einen Besen und begann, mit schwungvollem Wisch die anderen Gäste am Erdreich teilhaben zu lassen. Es dauerte nur Sekunden, bis mehr als ein Dutzend Partygäste mit Erde um sich schmissen. Mike verschwand und kehrte mit einem Gartenschlauch zurück: „So, jetzt wird geputzt hier …“ Und damit hat er alle von Kopf bis Fuss eingewässert.»

Es versteht sich von selber, dass nichts von diesen Vorkommnissen in den damaligen Reportagen der Motorsportberichterstatter auftauchten. Verschwiegenheit überwog Verkaufszahlen, es ging um Loyalität, nicht um Likes.

Die alte Zeit war insofern schon ziemlich gut.

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