Gespann-Legende Eberhard Dietrich verstorben
Das Gebrüderpaar Walter und Eberhard Dietrich war das erfolgreichste Sidecar-MX-Team der DDR. 1960 wurden sie erstmals Deutscher Meister. Es folgten 11 DDR-Meisterschaftstitel von 1961 bis 1986 sowie ungezählte internationale Triumphe in osteuropäischen Ländern wie der CSSR, Polen, Ungarn, Slowakei und Rumänien.
Am 13. Februar 2019 verstarb Eberhard Dietrich im Alter von 78 Jahren. Eberhard agierte als Beifahrer seines älteren Bruders Walter.
Gelebte Leidenschaft
Allein ihre sportlichen Erfolge wären Grund genug, die Leistung des Bruderpaars Dietrich und ihren Beitrag zum deutschen Motocrosssport zu würdigen. Aber die Tatsache, dass hinter der sportlichen Bilanz ein exzellentes Stück Ingenieurskunst steckt, macht ihre Biographie einzigartig. Sie konstruierten unter den erschwerten Bedingungen der ostdeutschen Mangelwirtschaft Hochtechnologie-Aggregate, für die heute eigene Entwicklungsabteilungen betrieben werden. Die selbst konstruierte Technik war nicht nur leistungsfähig überlegen, sondern auch extrem zuverlässig. Bis auf kleinere Defekte, wie eine abgesprungene Kette, sind die Dietrichs im Rennen praktisch nie ausgefallen. Das alles geschah aber zu einer Zeit, in der bei jedem Rennen ein beträchtlicher Teil des Feldes mit technischem Defekt am Streckenrand stand, denn es war die Zeit der verrücktesten und waghalsigsten Technikexperimente. Die Leistungsfähigkeit und Beständigkeit ihrer Gespanne fiel natürlich auch den Mitbewerbern auf und brachte manchen Neider auf den Plan. Alle Proteste scheiterten. Die Dietrichs nutzten das technische Reglement zwar bis an die Grenzen aus, gingen aber niemals darüber hinaus. Diese Tatsache erregte allerdings sogar in der WM für Aufsehen, an der die DDR-Fahrer bekanntlich nicht teilnehmen durften. Die Dietrichs wurden so zu den stillen Meistermachern der WM-Elite der 1980er Jahre.
Verrückte Experimente
Damals wie heute war die Seitenwagenszene geprägt von pfiffigen und teilweise abenteuerlichen technischen Lösungen. Unter den Bedingungen der DDR-Mangelwirtschaft wurde dieses Prinzip jedoch noch weiter zugespitzt. Im Fahrerfeld tauchten Gespanne mit zwei (!) gekoppelten 250ccm-CZ-Zweitakt-Motoren auf. Bei Motorenlösungen blieb kein Experiment unversucht: Es ackerten Gespanne mit Trabant(!)-Automotoren und mit diversen gekoppelten Motoren um die Rennstrecken. Nichts schien unmöglich zu sein, aber nur wenig funktionierte.
«All diese Lösungen erschienen uns nicht tragfähig», erklärt Walter Dietrich, der mit 81 Jahren weiterhin agil ist. «Der 360er CZ-Motor hatte nach unserer Meinung für ein Gespann nicht genügend Leistung. So sind wir auf den JAWA-Viertakt-Einzylinder-Motor gekommen, der im Speedway sehr erfolgreich war und auch heute noch ist.»
Fitness ist alles
Grundvoraussetzung für ihren Erfolg war aber zuallererst die körperliche Fitness: Ich war als Kind Geräteturner und habe es bis zum Bezirksmeister gebracht. Mit 14 Jahren bin ich zur Leichtathletik gewechselt. Dort wurde ich Mittel- und Langstreckenläufer», erinnert sich Walter. Mit Eberhard sind wir 4 bis 5 Mal pro Woche knallhart gegeneinander eine Runde um den Park gelaufen. Außerdem hatten wir zweimal wöchentlich die Turnhalle mit allen Geräten für unser Training zur Verfügung.
Erste Schritte im Motorsport
«Begonnen haben wir in der Saison 1958 mit Horst Storbeck als Fahrer und mir als Beifahrer. Horst ist später ein erfolgreicher Rallyefahrer geworden. 1960 haben wir das erste Mal die nationale Meisterschaft gewonnen, die damals noch Deutsche Meisterschaft hieß. Eberhard fuhr mit einem anderen Piloten auch als Beifahrer im Seitenwagen. Erst danach haben wir Brüder mit mir als Fahrer gemeinsame Sache gemacht. Unser erstes 350er Gespann hatte einen Simson-AWO-Viertaktmotor, mit dem wir die Grenzen des Reglements voll ausgeschöpften. Ich hatte für den AWO schon eine eigene Kurbelwelle gebaut, die mehr Hub als der Serienmotor hatte.»
Frühe Karriere als Solofahrer
Zwei Wochen nachdem der ADMV gegründet wurde, wurde Walter Dietrich Mitglied im ostdeutschen Motorsport-Verband, dem er seit nunmehr als 60 Jahren angehört. «Als Heinz Ramsch [Anm.: Trainer von Paul Friedrichs] den Solosport forcierte, sind wir 1963 zum Solosport gewechselt und ich bin Vierter in der 125ccm-Meisterschaft geworden.»
Speedway-Motoren für MX-Gespanne
Methanol-betriebene Speedway-Aggregate sind ohne Getriebe alles andere als Motocross-tauglich. «Das erste Problem war die Materialbeschaffung. Russische Sportfreunde brachten uns die Speedway-Motoren aus Krasnojarsk in Sibirien im Flugzeughandgepäck mit. Die 30 kg schweren Einzylinder-Viertaktmotoren haben wir dann für den Motocross-Einsatz umgebaut. Mein Thema waren die Kurbelwellen, die wir komplett selbst gefertigt haben, so dass unser Gespann nur geringe Vibrationen hatte. An den luftgekühlten Zylinder haben wir Kühlrippen angeschweißt und die Verdichtung von 18:1 für Methanolbetrieb auf 11:1 verkleinert, so dass die Motoren mit Benzin betrieben werden konnten. Dafür brauchten wir eigens angefertigte Kurbelwellen, die vor allem leichter waren, denn im Motocross brauchen wir nicht die hohe Schwungmasse wie im Speedway. Wir haben die Masse der Kurbelwelle halbiert. Das nächste Problem war die Schmierung. Im Speedway haben sie eine Verlustschmierung, bei der das Öl aus dem Öltank ins Kurbelgehäuse über ein Flatterventil weggeblasen wird. Aber ein Speedwayrennen dauert nur wenige Minuten, ein Motocrossrennen eine halbe Stunde. So haben wir eine spezielle Ölpumpe angefertigt, um das Öl in einem geschlossenen Kreislauf wieder zurückzupumpen.»
Tauschgeschäfte auf allen Ebenen
Die ersten Rahmen bauten die Brüder Dietrichs selbst: «Die MZ-Werksabteilung [Anm.: Im Endurobereich, wo MZ-Werksfahrer noch an der EM und WM teilnehmen durften] hat Wind von unserem Projekt bekommen und wollte einen JAWA-Speedwaymotor als Muster für ein Enduroprojekt für die Klasse über 500 ccm haben. Im Gegenzug bekam ich von der Sportabteilung die Chrom-Molybdän-Rohre, aus denen wir unseren Rahmen geschweißt haben.»
Die Leichtbaukünstler
«Wir hatten den JAWA-Speedwaymotor auch mit Wasserkühlung gebaut», erklärt Walter Dietrich. «Die Wasserpumpe stammte aus einer Waschmaschine. Aber diese Konstruktion hat sich nicht bewährt. Der ganze Motor wurde zu schwer, das Gespann zu unhandlich. Ich war ein Freund der Leichtbaukonstruktionen.»
Der Weg durch den eisernen Vorhang
In Ungarn und in der CSSR sind die Dietrichs gegen WM-Spitzenfahrer wie Emil Bollhalder oder Robert Grogg aus der Schweiz gefahren. «Grogg hat in Oubenice dreimal das Norton-Getriebe zerstört und gewechselt. Die meisten WM-Fahrer haben ihre Motoren zu dem Niederländer Cor van den Biggelaar [Anm.: Damals ebenfalls WM-Spitzenfahrer] gebracht, der die Revision der Motoren gemacht hat. Biggelaar kam zu mir nach Wörlitz - umgekehrt ging es ja nicht - und wir haben bei mir in der Garage das Getriebe zerlegt. Gemeinsam überlegten wir, das Getriebe umzukonstruieren und durch breitere Zahnräder so robust zu machen, dass sie der Leistung der aufgebohrten Motoren standhalten konnten. Wir haben für die Zahnräder die Stahllegierung 18CR/Ni8 verwendet [Anm.: Eine Legierung für höchsbelastete Teile], was wir im Schmiedewerk Brand-Erbisdorf gießen konnten. Dann habe ich die Räder vordrehen lassen und im Zwickauer Grubenlampenwerk fräsen und härten lassen. Van den Biggelaar bot mir eine exklusive Vereinbarung an, dass er einen guten Preis zahlt, aber auch niemand außer ihm diese Teile bekommt. So kamen wir dann wiederum an Fahrwerksteile wie Rahmen und Stoßdämpfer, die wir in der DDR nicht bekamen.»
Die stillen Meistermacher der WM
So stattete der in Nordhausen am Rande des Harzes studierte DDR-Ingenieur Walter Dietrich in den 1980er Jahren die gesamte Weltspitze mit seinen modifizierten Getriebeteilen aus. «Tony van Heugten [Anm.: Gespannweltmeister 1981] hat zu mir wortwörtlich gesagt: Ohne den Walter wäre ich nie Weltmeister geworden.» Tauschgeschäfte waren an der Tagesordnung: Vergaser gegen Getriebewellen, Stoßdämpfer gegen Zahnräder, Ketten gegen Zündkerzen, Reifen gegen Luftfilter.
Todesberg 'rückwärts' in den Talkessel
Im 70 km von ihrem Heimatort Wörlitz entfernten Talkessel von Teutschenthal haben die Gebrüder Dietrich mehrfach gewonnen und wurden zum absoluten Zuschauermagnet. «Vor 30.000 begeisterten Zuschauern zu fahren und zu gewinnen, war immer etwas Besonderes. Der Talkessel war für das erfolgreiche Bruderpaar auch ein beliebtes Trainingsareal. Ihre niederländischen Gäste, die auf Hartboden trainieren wollten, brachten sie manchmal mit. Zu Trainingszwecken sind sie den Kurs dann auch entgegen der Fahrtrichtung gefahren. Walter erinnert sich: «Der Todesberg [Anm.: Die berühmte erste Steilauffahrt direkt nach der ersten Linkskurve nach dem Start] sieht von der anderen Seite wie ein normaler Sprunghügel aus. Ich habe ihn also voll genommen und als wir bemerkten, dass es in die Tiefe abwärts geht, war es schon zu spät. Wir sind mit dem Gespann bis runter gesprungen und erst knapp vor der Talsohle gelandet. Aber unser Fahrwerk hat gehalten.»
Übrigens: Woher der 'Todesberg' seinen Namen hat, werden wir demnächst in SPEEDWEEK.com erklären.
Markenzeichen: Gelber Ford-Transit
Auffallend war, dass die Gebrüder Dietrichs in den 1980er Jahren zu den Rennen mit einem auffallend gelben Ford-Transit anreisten, was im grauen DDR-Verkehrsalltag mehr als nur ein bunter Farbtupfer war. «Mit unseren Getriebeteilen hatten wir inzwischen etwas Geld verdient, so dass wir beim Außenhandelsministerium einen Antrag für den Import eines Transporters gestellt haben, der uns sogar genehmigt worden ist. Unsere niederländischen Partner haben dann einen schrottreifen Ford-Transit als Geschenk verzollt in die DDR überführt. Aber mit diesem Wagen konnten wir nichts anfangen. Ein weiteres Gesuch beim Ministerium wurde abgelehnt. Dann sind wir auf die Idee gekommen, einen Importantrag auf eine Karosserie zu stellen, der genehmigt wurde. Unsere niederländischen Freunde sind dann mit einem neuen Ford Transit gekommen und hatten auf dem Anhänger eine schrottreife Karosserie. Aus dem ersten Transporter und der eingeführten Schrottkarosserie haben wir dann ein Auto zusammengezimmert, mit dem die Holländer wieder nach Hause gefahren sind und haben uns den neuen Wagen dagelassen, den wir dann statt der Schrottkiste angemeldet haben. Kurz nach Grenzübertritt sind die Holländer in Westdeutschland mit unserer Schrottkarre liegengeblieben.»
Motocross mit über 70
Nach der politischen Wende 1990 konzentrierte sich Beifahrer Eberhard Walter auf die elterliche KFZ-Werkstatt, für die sich nun neue Möglichkeiten anboten. Eberhard fand mit KTM einen guten Partner, mit dem er sich voll und ganz auf das Zweiradgeschäft konzentrieren konnte. Sein Sohn Thomas führt die 1893 gegründete Firma nun bereits in der 4. Generation. Das Renn-Gen wurde ihm dabei von Vater Eberhard ebenfalls in die Wiege gelegt: Thorsten Dietrich hat nach der politischen Wende bei Maico sein Handwerk erlernt und war 8 Jahre als Techniker in der KTM-Sportabteilung tätig. Er betreute den siebenfachen Enduroweltmeister Kari Tiainen und den fünffachen Enduroweltmeister Juha Salminen. Auch in der Supermoto-WM war Thorsten Dietrich als Mechaniker von Klaus Kinigadner und Jürgen Künzel aktiv. Thorsten Dietrich hat sich mit seinem Motorradfachgeschäft auch überregional einen ausgezeichneten Ruf erarbeitet.
Straßenmotorrad? Zu gefährlich!
Bei der großen Auswahl an KTM-Straßenmotorrädern im Laden seines Neffen stellt sich für Walter die naheliegende Frage: Fährt er heute noch auf der Straße Motorrad? «Nein, das ist mir zu gefährlich», lacht der 81-Jährige. «Ich gehe lieber in die Pyrenäen wandern, reise nach Marokko und gehe über den hohen Atlas und fahre jedes Jahr in Polen Kajak. Damit halte ich mich körperlich und geistig fit. Letztes Jahr waren wir mit dem Wohnmobil in Sibirien, Kasachstan und in der Mongolei. Für mehr Aktivitäten fehlt mir die Zeit.»
Wir wünschen Walter Dietrich, der nun zuallererst den Verlust des Bruders verarbeiten muss, noch viele gute und gesunde Jahre. Walter und Eberhard Dietrich haben tausenden Rennsportfans unvergessliche Momente gegeben. Mit etwas Glück können Sie Walter Dietrich im Talkessel oder bei dem ein oder anderen Seitenwagenrennen sehen. Die nächste Gelegenheit wäre übrigens das 'TalkeselClassics' am 11. Mai.