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Jorge Lorenzo: Zweifel über das Leben & die Karriere

Von Günther Wiesinger
Jorge Lorenzo: Nachdenkliche Miene beim Silverstone-GP

Jorge Lorenzo: Nachdenkliche Miene beim Silverstone-GP

Repsol-Honda-Werkspilot Jorge Lorenzo steht an einem Scheideweg. Die Brustwirbelbrüche haben ihn nachdenklich gemacht. Sein Selbstvertrauen hat bei Honda schwer gelitten.

Jorge Lorenzo spielte beim Britischen Motor Cycle Grand Prix auf der Rennstrecke nur eine Nebenrolle. Trotzdem stand der Repsol-Honda-Werksfahrer bei seiner Rückkehr nach den zwei Brustwirbelbrüchen von Assen im Mittelpunkt des Interesses. Der Auftritt des fünffachen Weltmeisters wurde mit Argusaugen beobachtet.

Denn im Juli waren in Spanien Meldungen aufgetaucht, der 32-jährige Mallorquiner habe die Nase voll nach einem ganzen Jahr mit Verletzungen, er denke über einen Rückzug vom Motorradsport nach.

Am Freitag kam Lorenzo in Silverstone nicht über Platz 21 mit 3,6 Sekunden Rückstand hinaus. Er machte keinen Hehl aus seiner zaghaften Fahrweise und machte die Szene mit kryptischen Bemerkungen hellhörig. «Ich habe viele Qualitäten verloren», räumte Jorge am Freitag ein.

Er habe 4 kg Muskelmasse eingebüsst und spüre Schmerzen im Nacken, versicherte er.

Von der Leichtigkeit des Seins, die Lorenzo jahrelang beflügelt und ihm zu 68 GP-Siegen in 290 Grands Prix befördert hat, ist vorläufig nicht viel zu sehen. Seit Aragón 2018 ist der Spanier nie mehr wirklich verletzungs- und schmerzfrei gefahren.

Nach zwölf Grands Prix fehlt immer noch der erste Top-Ten-Platz auf der Repsol-Honda.

Dabei war Lorenzo im November bei den ersten Honda-Tests mit Top-5-Ergebnissen aufgefallen.

Aber inzwischen scheint der populäre Spanier von ernsthaften Zweifeln befallen zu sein. Das untermauerte er mit einer denkwürdigen Aussage am Donnerstag. «Wenn du gewohnt bist, Rennen zu gewinnen, aber dann schwere Stürze hinnehmen musst, kommen bei dir Zweifel über das Leben und die Karriere auf», seufzte er.

Damit gab er den Rücktrittsgerüchten vom Juli neue Nahrung. Die Zukunft des Superstars mit der Nummer 99 war in England eines der wichtigsten Gesprächsthemen im Paddock.

Dabei ist es kaum drei Wochen her, seit Lorenzo eine Klarstellung getroffen hat. «Als die Rücktrittsgerüchte zu stark wurden, habe ich Anfang August Alberto Puig angerufen und ihm versichert, dass ich meinen Honda-Vertrag erfüllen werde», schilderte Jorge in England.

Er versicherte, es sei genug Motivation vorhanden.

Er ergänzte aber: «Wir sind alle Menschen. Es ist normal, dass hin und wieder Zweifel aufkommen. Das habe ich Honda mitgeteilt. Doch ich hatte niemals ernsthafte Rücktrittsgedanken.»

Schwere Zeiten für Lorenzo bei Honda

Das Silverstone-Wochenende von Jorge Lorenzo machte bei Repsol-Honda aber viele Betroffene nachdenklich. Einge Teamchefs rechnen ganz offensichtlich mit einem Rücktritt von Lorenzo zum Saisonende.

Wird Lorenzo 2020 wieder auf der Werks-Honda sitzen? Der dreifache MotoGP-Weltmeister, seit Spielberg 2018 ohne GP-Sieg, antwortete mit einer Gegenfrage und schweifte dann ab. «Warum nicht? Ich habe einen Zwei-Jahres-Vertrag. Wir haben bisher schwere Zeiten durchgemacht. Aber ich möchte mit der Honda die erhofften Resultate erzielen – wie ich es in meiner 17-jährigen GP-Karriere immer gemacht habe.»

Die Frage, ob Jorge Lorenzo die schwer zu beherrschende Honda RC213V in diesem Jahr mit seinem augenblicklichen Gesundheitszustand noch perfekt bändigen und beherrschen wird, bleibt vorläufig unbeantwortet.

In Silverstone wurde auch offenkundig, dass die Spielberg-Episode mit dem möglichen Transfer zu Pramac-Ducati (statt Jack Miller für 2020) augenscheinlich von Lorenzo und dessen Manager Albert Valera ausging.

Gigi Dall’Igna, General Manager von Ducati Corse, und Ducati-CEO Claudio Domenicali fanden dann durchaus Gefallen an dieser Idee. Denn immerhin hat Jorge auf der Desmosedici 2018 drei lupenreine GP-Siege gefeiert – in Mugello, Catalunya und Spielberg.

Aber diese Überlegungen sind passé. Denn Jack Miller bleibt bei Pramac.

Außerdem ist Lorenzo bei Repsol-Honda bisher viel schuldig geblieben.

Bei Ducati gewinnen Kräfte die Oberhand, die nicht auf die Vergangenheit setzen wollen, sondern auf die Zukunft – also auf Bagnaia und Miller. Oder auf einen neuen Star wie Fabio Quartararo für 2021 und 2022. Yamaha hat bei den Talenten jahrelang viel Geschick bewiesen, Suzuki mit Rins jetzt auch. Ducati setzte auf Haudegen wie Dovi und Lorenzo, dazu auf Petrucci, den letzten Ducati-Titel gewann aber Casey Stoner als junger Außenseiter 2007.

Lorenzo verlor gestern beim Silverstone-GP in der ersten Runde 7,5 Sekunden, Nach 14 Runden lang er 42,6 Sekunden zurück, nach 20 Runden 56,6 Sekunden.

Da wird man den Eindruck nicht los: Die Angst fährt mit.

Kann sich der Superstar und MotoGP-Weltmeister von 2010, 2012 und 2015 noch einmal bedingungslos motivieren und gegen das Schicksal aufbäumen?

Das unbändige Selbstvertrauen aus der Yamaha-Ära ist Vergangenheit. Damals sprach Jorge oft von fehlerlosen Glanzleistungen, er lobte sich gerne selber.

Bei Yamaha habe ich gehört, Jorge habe immer eine Heidenangst vor einer schweren Verletzung gehabt. Jetzt ist er im Juni 2019 beim Montag-Test in Montmeló und nachher in Assen womöglich an einer dramatischen Verletzung vorbei geschrammt. Womöglich waren sein 6. und 8. Brustwirbel schon in Catalunya angeknackst, als sein Bike am Montag in Montmeló nach einem heftigen Crash hoch über die Airfences flog.

Dann hätte der Assen-Crash ein ganz bitteres Ende nehmen können. Wayne Rainey kann ein Lied davon singen.

Die nächsten Grands Prix werden zeigen, ob Lorenzo wieder Anzeichen seiner einstigen Risikobereitschaft offenbart. In England war davon wenig zu sehen.

Er verlor im Qualifying 3,394 sec auf Marc Márquez, aber das durfte ihm keiner verübeln, denn er betrachtete den Britischen Grand Prix als Aufbautraining.

Der Mallorquiner ist überzeugt, dass es noch einige Zeit dauern wird, bis er wieder zu 100 Prozent bei Kräften ist. «Momentan ist meine Priorität, dass ich nicht stürze. Ich denke nicht daran, so schnell wie möglich wieder an die Spitze zu kommen. Ich kann mir vorstellen, dass ich in Aragón Ende September so weit sein werde, dass ich wieder mehr pushen kann, weil ich bis dahin hoffentlich nicht mehr ganz so vorsichtig sein muss. Dann wird es meinen Muskeln besser gehen und ich werde mehr Gefühl für das Motorrad haben. Ein paar Rennen wird es gewiss brauchen, bis ich wieder angreifen kann...»

Wir werden bei den nächsten Grands Prix genau hinhören, wenn Lorenzo das Wort ergreift.

Bisher hat er noch nicht dezidiert verkündet, dass er auch 2020 für Repsol-Honda fahren wird.

Bei der Dorna wird mit seinem Rücktritt gerechnet. Bei Honda wird die Kluft zwischen der Performance von Márquez und Lorenzo argwöhnisch betrachtet.

Bis zum Saisonende wird eine Tendenz Richtung Top-5 erwartet.

Fakt ist: Lorenzo ist 32 Jahre alt, er ist seit Aragón 2018 dauernd verletzt, er stellt sich Fragen und will nicht dauernd mit schmerzhaften Blessuren seiner alten Form nachlaufen.

Er hat bei Ducati in zwei Jahren 25 Millionen Euro verdient und hat dazu bei Yamaha als Werksfahrer von 2008 bis Ende 2016 ebenfalls eine ansehnliche Stange Geld eingestreift.

Doch seit bald einem Jahr hat Lorenzo mehr Rückschläge einstecken müssen als jeder andere MotoGP-Fahrer.

Schmerzen, Knochenbrüche und Entbehrungen sind seit Aragón 2018 seine ständigen Begleiter. Da kommt jeder Sportler ins Grübeln.

Jorge Lorenzo hat sich Geduld verordnet. Aber die Geduld ist nicht seine Stärke, wie man beim Barcelona-GP gesehen hat, wo er gleich in der Anfangsphase sich selbst sowie Dovizioso, Viñales und Rossi aus dem Rennen gerissen hat, weil er endlich wieder einmal eine Podestchance witterte.

Wenn Lorenzo am Saisonende bei Halbzeit aus seinem Honda-Vertrag aussteigen würde, wäre niemand verwundert.

Jorges jüngste öffentliche Aussagen lassen viel Interpretationsspielraum. Von seiner alten Besessenheit, von der beispielhaften Risikobereitschaft und vom unbändigen Siegeswillen ist momentan nicht viel zu sehen.

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