Formel 1: Max Verstappen – Chancen verspielt?

Das Tauziehen zwischen Ingenieuren und Regelhütern

Kolumne von Michael Scott
Neue Knöpfe für den «ride height adjuster» wurden im Februar bei Ducati gesichtet

Neue Knöpfe für den «ride height adjuster» wurden im Februar bei Ducati gesichtet

Ducati-Rennchef Gigi Dall’Igna und sein «Löffel», «holeshot device» oder «ride height adjuster» sind nur die jüngsten Beispiele der schwierigen Innovation im Motorsport.

Zeitungsbaron Lord Beaverbrook wurde während des Zweiten Weltkriegs von Winston Churchill mit der wichtigen Aufgabe betraut, die Flugzeugproduktion zu überwachen. Er ließ in kurzer Zeit mehr als 22.000 Jagdflugzeuge vom Typ Supermarine Spitfire produzieren, die entscheidend zum Sieg in der Luftschlacht um England beitrugen.

In seinem Büro prangte ein Motto an der Wand: «Organisation ist der Feind der Improvisation.»

Moderne GP-Bikes sind die Jagdflugzeuge der Friedenzeiten. Die Organisation wird vom technischen Regelwerk übernommen, dass ein Buch mit mehr als 300 eng beschriebenen Seiten füllt und jeden Aspekt abdeckt – vom Motorendesign über Maße und Materialien bis hin zu den Aerodynamik-Richtlinien.

Dabei ist viel mehr verboten als erlaubt.

Im Falle der erfolgreichsten Designer regt das Regelwerk ihre Kreativität an. Es ist nicht wirklich dasselbe wie freies Denken und wahre Innovation. Aber es kommt dem noch am Nächsten – und hier gilt ein wichtiges Prinzip: Nicht der Wortlaut des Textes zählt, sondern der Raum zwischen den Zeilen. Die Regeln sind nicht dazu da, um befolgt, sondern umgangen zu werden.

Jahrelanges Tauziehen zwischen den Ingenieuren und den Regelhütern hat dazu geführt, dass viele Schlupflöcher gestopft wurden. Bestimmte Materialien, Techniken, Designs und Möglichkeiten wurden verboten.

Im Motorsport bedingt die höhere Komplexität im Vierrad-Sektor auch größeren Spielraum: Das beste Beispiel sind die Ansaugeffekte und das Staubsauger-Auto von Brabham im Jahr 1978. Dieser Formel-1-Wagen hatte am Heck einen großen Propeller montiert. Offiziell diente er der Kühlung, aber der eigentliche Zweck bestand darin, das Auto auf die Strecke zu pressen. Nach nur einem Rennen (das es mit Riesenvorsprung gewann), wurde es aus dem Verkehr gezogen, weil es einfach zu clever und zu gut war.

Im Zweirad-Bereich liegen die Innovationen normalerweise in den Details. Die Michelin-Radialreifen aus den 1970ern sind ein Beispiel. Wenig später, in den späten 1970ern, kam das 16-Zoll-Vorderrad. Die Karbonbremsen und die Upside-Down-Gabel (zurückblickend ein ziemlich logischer Schritt) folgten in den 1980ern.

Die Freiheiten im Bereich des Chassis-Designs ermöglichte verschiedene Varianten, darunter mehrere Karbon-Experimente (zuletzt von Ducati) und die berühmte Cardbox von Suzuki – bevor die Alu-Rahmen zur Norm wurden.

Die Ausnahme bildet KTM mit dem Stahlrohrrahmen; aber die richtig verrückten Renner kamen aus Frankreich und trugen den Namen Elf. Mit der Achsschenkellenkung an der Gabel unterstützen sie aber lediglich die konventionelle Denkweise, weil sie daran scheiterten, sich zu verbessern.

Die meisten dieser Entwicklungen (abgesehen von den Reifen) konzentrierten sich einzig und allein auf das Rennfahren und waren für die Straße von geringer Relevanz. Anders bei Yamahas wegweisendem Zentral-Federbein für die Hinterradaufhängung. Wobei diese Pionierarbeit eigentlich auf die Vincent von Stevenage zurückging, bei der es im Grunde schon in den späten 1920er-Jahren angewandt wurde. Die Zentral-Federbeine wurden später vom Motocross übernommen.

In der jüngeren Vergangenheit waren die Innovationen im Bereich der Elektronik von größter Bedeutung, aber dem wurde mit der einheitlichen Soft- und Hardware ein Riegel vorgeschoben. Das führte dazu, dass die Elektronik für Serienmaschinen in mancher Hinsicht fortschrittlicher und abenteuerlicher ist.

Auch für die Reifen gilt ein Standard, während die zulässigen Bremsmaterialien genauso limitiert sind wie die exotischen Metalle im Motor. Gleiches gilt bei jeglicher Entwicklung wie auch jener der modernen Schaltgetriebe.

Angesichts der geltenden Einschränkungen muss man jede echte Innovation schätzen. Honda kam 1992 mit der Big-Bang-Zündfolge aus dem Nichts. Das Prinzip wurde von Yamaha 2004 mit der Cross-Plane-Kurbelwelle abgewandelt und wird in der MotoGP nun durchgängig von allen Werken angewendet.

Honda leistete auch 2011 mit dem Seamless-Gear-Shift-System Pionierarbeit; auch der 990 ccm-V5-Motor mit der Bezeichnung RC211V bildete eine Innovation. (Der Ovalkolben-Motor der NR500 war dagegen 1979 keine besonders gute Idee).

Mein vollster Respekt gilt Ducati, denn vom Versteckspiel zwischen Rennchef und Technik-Fuchs Gigi Dall’Igna und den Regelhütern profitiert der Speed und die Unterhaltung. So kam er beim Saisonauftakt 2019 mit seinem «Löffel» an der Schwinge durch, indem er das Device als Reifenkühler ausgab. Der Protest der gegnerischen Werke wurde abgewiesen.

Das Querdenken geht weiter: Ducati ließ 2019 mit dem «holeshot device» (Startvorrichtung) aufhorchen. 2020 folgte der «ride height adjuster». Die beiden Systeme blockieren beim Gasgeben das Federbeim, beim Fahrhöhen-Anpasser wird das Heck abgesenkt, dadurch gibt es weniger Wheelie-Neigung. Man kann heftiger beschleunigen. So umgeht Ducati das Verbot der elektronischen Suspension elegant, indem diese Devices manuell aktiviert werden.

Aber am Ende behält grundsätzlich das Regelwerk die Oberhand, was mit zwei Beispielen belegt werden kann: Die vielleicht bedeutendste Innovation aller Zeiten war die Entwicklung des leistungsstarken Zweitakters von MZ. Als die Zweitakter vom Regelwerk zurückgedrängt wurden, setzte das der Entwicklung des idealen Motors ein Ende.

Ein weiterer Sieg über die Innovation war in den 1950er-Jahren das Verbot der «all enveloping dustbin fairing». Bei dieser Vollverkleidung war nicht einmal das Vorderrad des Bikes zu sehen. Die FIM schrieb dann eine neue Aerodynamik vor, seitdem sehen die GP-Maschinen wieder annähernd wie Motorräder aus.

Auf eine gewisse Weise könnte man also sagen, dass Organisation die Innovation inspiriert. Mit Einschränkungen.

Vielleicht passt dazu ein anderes Motto: «Man muss nicht verrückt sein, um hier zu arbeiten, aber es hilft ungemein.»

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