Reiseverbot: Die großen Sorgen der japanischen Werke
Vor vier, fünf Wochen befürchtete der im italienischen Piemont lebende Yamaha-Renndirektor Lin Jarvis noch, die MotoGP-Saison werde wegen der vielerorts entmutigenden Corona-Fallzahlen erst im September oder Oktober starten. Seit Donnerstag liegt ein neuer GP-Kalender mit 13 Rennen vor, jetzt ist wieder Aufbruchsstimmung zu spüren. Denn selbst Italien meldete gestern nur noch 163 Neuinfektionen, Deutschland hingegen 455.
«Ja, ich war vor einigen Wochen noch ziemlich besorgt», räumte Lin Jarvis jetzt im Gespräch mit SPEEDWEEK.com ein. «Da hatte ich noch eine eher pessimistische Blickrichtung. Aber es sieht so aus, als bessere sich die Situation. In vielen Ländern werden die Maßnahmen gelockert. Besonders Österreich ist ein sehr gutes Beispiel, sie haben bereits nach Ostern erste Lockerungsmaßnahmen durchgezogen. Jetzt haben wir auch in Italien relativ viel Bewegungsfreiheit zwischen den Zonen und Regionen. Inzwischen sind auch die Grenzen wieder geöffnet; die Reisenden müssen keine Quarantänebeschränkungen mehr erdulden. Wir haben zwar in Italien immer noch ein paar Gebiete, in denen die Virusverbreitung noch nicht ganz eingedämmt worden ist. Aber wir hoffen, dass sich die Situation in den nächsten vier Wochen bis zum Start in Jerez weiter verbessern wird, damit besonders die Personen außerhalb der EU wieder Reisefreiheit genießen. Innerhalb der EU wird das klappen, ab 1. Juli auch in Spanien.»
Das von Lin Jarvis geleitete Monster Yamaha-Werksteam mit Maverick Viñales und Valentino Rossi bringt üblicherweise 55 Personen zu den Grand Prix. Mit dem «closed doors protocol» muss die Anzahl bei den MotoGP-Werksteams auf 45 reduziert werden. Aber bei Yamaha stecken bisher zehn davon in ihrer Heimat fest.
Yamaha sieht sich nämlich wie die anderen japanischen Hersteller (Honda und Suzuki, dazu NTS in der Moto2) mit einem erheblichen Problem konfrontiert.
«Unsere größte verbleibende Sorge ist die Reisefreiheit für die japanische Gruppe», versichert der Yamaha-Renndirektor. «In unserem Fall kommen auch die Australier dazu. Im Augenblick können sie auch mit einem negativen Covid-19-Test nicht nach Europa fliegen. In Australien haben sie jetzt ein System eingeführt, das Ausnahmen bei wichtigen beruflichen Verpflichtungen erlaubt. Jetzt haben wir einen offiziellen Kalender, also können wir mit den Ansuchen beginnen. Wir haben ein Datum, ein Projekt, einen Zeitplan, und wir können jetzt triftige Gründe namhaft machen, warum wir diese und jene Person bei den Rennen brauchen.»
«Wir werden bei diesen Ansuchen jetzt mit den Australiern beginnen», erläutert Jarvis. «Dann müssen wir abklären, ob Japan in den nächsten Wochen ähnliche Ausnahmen gestattet und die Reisefreiheit aufgehoben wird, zumindest in Sonderfällen. Wir denken, das wird bald passieren. Dann haben wir noch die firmenspezifischen Reisewarnungen der Firma Yamaha selbst… Aber wenn wir die Genehmigung der Regierung bekommen, wird Yamaha seinen Ingenieuren erlauben, zu den Rennen in Europa zu fliegen.»
Während Viñales und Rossi kein Problem haben werden, zu den Rennen zu kommen, bestehen bei Yamaha noch ernsthafte Bedenken, ob alle namhaften Ingenieure anreisen können, die für den bestmöglichen Betrieb der Yamaha YZR-M1-Rennmaschinen nötig sind.
Jarvis: «Wir haben klargestellt, dass wir nur an den MotoGP-Rennen teilnehmen können, wenn eine Lösung gefunden werden kann. Besonders für unsere japanische Ingenieure muss die Möglichkeit bestehen, die Grand Prix zu besuchen. Wenn sie nicht kommen können, haben wir bedeutende Schwierigkeiten, die Rennen zu bestreiten. Wenn die Japaner nicht anreisen können, sind Honda und Suzuki genauso betroffen. Das würde ganz klar eine Situation herbeiführen, in der die europäischen MotoGP-Hersteller einen unfairen Vorteil genießen würden, weil sie in voller Mannstärke antreten können. Unsere Befürchtung ist, dass unsere WM-Teilnahme dadurch erheblich beeinträchtigt würde. Deshalb ist es sehr wichtig, dass dieses Problem gelöst wird.»
Wenn die Japaner im Juli nicht nach Europa kommen dürften, würde die MotoGP-WM mit dem Geschmack eines unlauteren Wettbewerbs beginnen. Im Tennissport wurden genau aus dem Grund bis auf weiteres alle großen Turniere abgesagt.
«Aber selbst wenn wir die Ausnahmegenehmigungen für unsere japanischen Ingenieure von den japanischen Behörden bekommen, stehen wir vor einem weiteren Problem», berichtet Lin Jarvis. «Unsere japanischen Techniker können zwischen den Rennen nicht nach Japan zurückfliegen, weil die Quarantänebestimmungen in Japan für Einreisende noch immer aufrecht sind. Die Ingenieure müssen sich also für lange Zeit in Europa aufhalten. Im Schengen-Abkommen ist jedoch festgehalten, dass sich Ausländer in einem Zeitraum von 180 Tagen nur 90 Tage ununterbrochen im Schengenraum aufhalten dürfen. Das ist auch ein Problem für andere Asiaten, für die Australier und Neuseeländer und so weiter. Das stellt auch ein Problem für die Fahrer aus anderen Teilen der Welt dar, sogar für die Teilnehmer des Asian Talent Cups. In unserem MotoGP-Team haben wir drei unverzichtbare Techniker aus Australien, dazu kommen sieben unentbehrliche Personen aus Japan.»
Natürlich gibt es legale Möglichkeiten, diese Bestimmungen zu umgehen, zum Beispiel durch eine Reise nach Albanien. Aber den MotoGP-Technikern nützt das wenig.
«Wir befassen uns mit Lösungen für dieses Problem», betont Lin Jarvis. «Wir haben jetzt in fünf Monaten 13 feste Rennen im Kalender. Aber selbst wenn unsere Ingenieure den Schengenraum einmal verlassen, wird das nicht oft genug sein bis zum vorläufigen Finale Mitte November in Valencia. Deshalb müssen Lösungen für alle Beteiligten gefunden werden. Die Dorna unterstützt uns bei diesen Vorhaben. Es darf kein Mensch aus einen Nicht-EU-Mitgliedsstaat innerhalb von sechs Monaten mehr als 90 Tage im Schengenraum verbringen. Wenn du dich 92 Tage hier aufhältst, ist das illegal. Das ist ein Zustand, auf den sich vielleicht eine einzelne Person einlassen kann. Aber als globales Unternehmen müssen wir bei Yamaha allen Gesetzen gewissenhaft Folge leisten. Deshalb werden wir in diesem Bereich keine Risiken eingehen. In unserer Unternehmenspolitik steht die Befolgung der Gesetze an oberster Stelle. Ein Konzern wie Yamaha will und wird deshalb nichts tun, was nicht gesetzeskonform ist. Punkt.»