Hervé Poncharal: Kundenteams können den Titel holen
Der neue Tech3-Star: Danilo Petrucci
Die lange Wartezeit auf die ersten offiziellen Testfahrten der MotoGP-Saison 2021 verkürzen die Teams mit ihren – Corona-bedingt digitalen – traditionellen Teamvorstellungen. Am Freitag wurden die RC16 von Red Bull KTM Factory Racing und Tech3 KTM Factory Racing in einem gemeinsamen Event enthüllt.
Vor allem das reine KTM-Design, das Danilo Petrucci und Iker Lecuona in der neuen Saison zur Schau stellen werden, zog dabei die Blicke auf sich. Tech3-Chef Hervé Poncharal äußert sich im Interview zum neuen Look, den Erwartungen und den Titelchancen eines Independent Teams.
2021 wird Tech3 die Bezeichnung Factory im Namen tragen. Hat sich das Verhältnis zu KTM verändert?
Ich bin sehr stolz darauf, dass KTM das 2021er-Programm gemeinsam und am selben Tag vorgestellt hat – das Factory Team und das Independent Team. Aber eigentlich ist es so, als wären es vier Factory-Bikes. Das macht mich sehr stolz und zeigt, dass KTM alle vier gleich unterstützt. Das war aber schon 2020 so. Was sich verändert, sind die Farben. Und ich weiß, dass die Herren Stefan Pierer und Hubert Trunkenpolz sehr stolz darauf sind und sich sehr darauf freuen, ein Bike in den reinen, ikonischen KTM-Farben in der Startaufstellung zu sehen.
Abgesehen von den Farben wird sich aber nicht wirklich etwas verändern, denn wir hatten schon 2020 den vollen Support. Iker und Miguel hatten jedes Mal dasselbe Bike wie Pol und Brad. Und wenn neue Teile kamen, dann für alle vier Fahrer zusammen. Sie hätten manchmal sagen können, Iker kann ein bisschen länger warten – aber so war es nicht.
2021 wird also wie 2020 sein, wir werden einfach nur ein bisschen auffälliger aussehen.
Wie verändert sich die Erwartungshaltung von Tech3 nach den zwei MotoGP-Siegen (durch Miguel Oliveira) im Vorjahr?
Die Erwartungen verändern sich nicht groß. Ich sehe es wie Pit Beirer, er wurde auch schon von allen Seiten gefragt, ob er mehr Druck fühle und KTM 2021 für den Titel bereit sei…
Ich glaube, dass 2020 eine großartige Saison war, für KTM generell und für Tech3. Aber wir fangen wieder bei null an. Das Feld ist unglaublich konkurrenzfähig – Bikes und Fahrer. Wer jetzt sagen kann, wer den ersten Grand Prix gewinnt und wer der Weltmeister 2021 wird, muss sehr clever sein. Ich glaube, es ist sehr offen: Es kann ein Ducati-Pilot sein, eine KTM, eine Suzuki, eine Yamaha... Ich werde jetzt nicht alle aufzählen, aber fast jeder im Feld kann Rennen gewinnen und ein guter Teil davon auch den Titel.
2020 war unglaublich, wir haben unvergessliche Erinnerungen daran: Unseren ersten GP-Sieg in der Klasse werden wir nie und nimmer vergessen – vor allem mit KTM, was die Emotionen noch größer macht. Aber wir müssen sehen.
Wir haben einen neuen Fahrer: Unser neuer Star-Fahrer Danilo Petrucci muss erst zum ersten Mal auf eine KTM steigen. Wir müssen also erst sehen, wie er sich auf diesem Bike fühlt, wie er performen kann. Das ist ein großes Fragezeichen, auch wenn ich glaube, dass Danilo sehr großes Potential hat und auf dem Bike schon bald schnell sein wird.
Dann haben wir Iker, der sich entwickeln sollte. Wenn wir zurückdenken, wo er stand, als er seine Saison beenden musste, dann können wir ziemlich ehrgeizig sein.
Wir haben also Ambitionen, aber nicht mehr Druck als vor der Saison 2020. Wenn man geleistet hat, was wir 2020 geschafft haben, dann hat man meiner Meinung nach sogar etwas weniger Druck. Denn wenn du deinen ersten Sieg jagst, wenn du beweisen willst, dass die KTM ein Sieger sein kann und wenn du dem KTM-Management zeigen willst, dass wir das Vertrauen zurückzahlen können… Wenn du da erst einmal geliefert hast, fällt Druck von deinen Schultern.
Wie gesagt, jetzt beginnt es wieder bei null. Das lieben wir aber am Sport, nichts ist schon vorher geschrieben.
Kann ein Independent Team in der MotoGP-WM um den Titel kämpfen?
Ja. Fast alle Independent Teams sind nun auf gleichwertigen Maschinen, sie erhalten denselben Support und werden gleich schnell weiterentwickelt. Und – mit vollem Respekt vor unserem Werks-Team – wir haben im Vorjahr mehr Rennen gewonnen als sie. Wenn man sich vor Augen hält, was in Jerez-2 und Spielberg-1 passiert ist, dann hätten wir sehr nahe an der besten KTM in der WM-Tabelle sein können.
Wenn man sich anschaut, was bei Yamaha passiert ist: Das Independent Team war 2020 klar das führende Yamaha-Team.
Ich glaube also, dass ein Independent Team auf dem Papier die Chance hat, Rennen zu gewinnen und um den Titel zu kämpfen. Da bin ich ziemlich sicher.
Joan Mir war ein unglaublicher Champion, aber das kam alles aus heiterem Himmel. Und ich glaube wirklich, dass ein Independent Team den Titel gewinnen kann – dank der technischen Regeln, dank des fahrerischen Niveaus und dank allen in der MotoGP involvierten Herstellern, die ihre Kundenteams ausrüsten und an sie glauben.
Mit Fabio Quartararo führte im Vorjahr schon über weite Strecken ein Independent-Team-Fahrer die WM-Tabelle an, aber dann rutschte er bis auf den achten WM-Rang ab. Gibt es eine Erklärung für das enttäuschende Saisonfinale des jungen Franzosen?
Das ist eine schwierige Frage und ich habe nicht wirklich eine Antwort darauf. Ich glaube, selbst die Leute, die eng mit ihm zusammenarbeiten, haben keine richtige Antwort. Ich habe nicht mit ihm gearbeitet und als KTM-Team kann man natürlich keinen großen Zugang zu einem Yamaha-Team haben.
Ich weiß es also nicht, aber klar ist: Nach dem zweiten Jerez-Sieg habe ich gedacht: «Fabio ist der Favorit.» Denn er hat dort nicht nur gewonnen, er hat die Konkurrenz zerstört. Man hat also geglaubt, dass er eine große Chance hat, zu gewinnen oder mindestens in den Top-3 der WM zu landen.
Ein paar Dinge sind passiert, die ihn gestört haben. Ich weiß nicht, ob es technischer Natur war oder mentale Aspekte. Alles, was ich weiß, ist, dass Fabio einer der schnellsten Fahrer im Feld ist. Er ist sehr jung und kann sich noch verbessern. Aber wir werden versuchen, ihn in jedem Rennen zu besiegen.