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Marc Márquez: Gratwanderung zwischen Genie & Wahnsinn

Kolumne von Günther Wiesinger
Nach dem zweiten Crash im Q1: Marc Márquez versteht die Welt nicht mehr

Nach dem zweiten Crash im Q1: Marc Márquez versteht die Welt nicht mehr

Es war zu befürchten, dass Marc Márquez auch am Sonntag auf Lombok Kopf und Kragen riskieren würde. Denn Vollgas ist sein täglich Brot. Ein Blick auf die wechselhafte Karriere des Honda-Stars.

Marc Márquez hat in der MotoGP-Weltmeisterschaft von 2013 bis Ende 2019 fast nach Belieben dominiert. Durch sein unermessliches Talent, seinen unbändigen Siegeswillen, durch seine unbeschreibliche Fahrzeugbeherrschung, sein fehlendes Angstzentrum im Hirn und durch den offenbar nur rudimentär ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb hat er 59 MotoGP-Rennen gewonnen, sechs mehr als das gesamte restliche Startfeld zusammen. Und er hat in den ersten sieben Jahren bis 2019 sechs WM-Titel abgeräumt.

Aber beim spanischen Repsol-Honda-Star sind in Extremsituationen auch immer wieder mal alle Sicherungen durchgebrannt – so wie am Samstag im Qualifying 1 auf dem Mandalika Street Circuit, als er innerhalb von ca. sechs Minuten zweimal mit mehr als 150 km/h stürzte und in der Startaufstellung auf Platz 14 zurückfiel.

Hat das Repsol-Team mit dem ganzen Schwarm japanischer «Manager», die sich wie willfährige Erfüllungsgehilfen des Superstars gebärden, mit Teamprinzipal Alberto Puig und Marcs persönlichem Manager Emilio Alzamora aus den Vorkommnissen beim ersten Jerez-GP am 19. Juli 2020 und den folgenden schweren Monaten kein Lehren gezogen?

Jedenfalls machte niemand Anstalten, Marc Márquez nach dem ersten Q1-Crash zur Besinnung und vor sich selbst in Sicherheit zu bringen. Im Gegenteil: Alzamora karrte ihn am Roller mit höchstmöglichen Tempo zurück an die Box und demolierte dabei noch den rückwärtigen Boxenzugang. Und Puig starrte nur ungläubig und womöglich begeistert auf den TV-Bildschirm.

Dank der Tatenlosigkeit des Teams nahm das Unheil weiter seinen Lauf. Marc Márquez zwängte sich beim dritten Q1-Run an Taka Nakagami vorbei und schmiss sein widerspenstiges Gefährt bei der nächstbesten Gelegenheit gleich wieder weg.

Wenn wir Marc Márquez richtig verstanden haben, wird es morgen im Rennen in diesem Trott weitergehen.

Der 28-jährige Spanier kann nicht anders. Er zieht sein Motto «Pokal oder Spital» seit dem Beginn seiner GP-Karriere schonungslos durch.

Während sich Vorgänger wie Cecotto, Roberts, Spencer und andere Stars irgendwann nach den ersten schweren Verletzungen ein bisschen einbremsten, kennt der ausserirdische Ausnahmekönner aus Cervera nur ein Rezept.

Vollgas ist sein täglich Brot.

Aber nach zwei Schulteroperationen, drei Oberarm-Operationen, zwei Knochentransplantationen und einer langen Pause wegen Doppelsichtigkeit (zum zweiten Mal nach Sepang 2011) ist Marc Márquez längst nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte.

Bradl: «Marc pushte wie ein Wahnsinniger»

Da Márquez auf den GP-Rennstrecken mit seiner fast 300 PS starken und bis zu 350 km/h schnellen MotoGP-Honda von 23 Rivalen umzingelt ist, könnte er irgendwann auch einen Rennfahrerkollegen ernsthaft in Gefahr bringen.

«Marc hat gepusht wie ein Wahnsinniger», stellte ServusTV-Experte Bradl nach dem Q1 heute trefflich fest. «Du kannst diesen Typ nicht bremsen. Die Probleme mit der Front haben ihn tierisch wütend gemacht. Deshalb sind ihm die Sicherungen durchgebrannt.»

Marc Márquez hat immer noch die Saison 2019 mit 12 Siegen und 6 zweiten Plätzen bei 19 Grand Prix als Muster im Kopf.

Aber diese Zeiten sind längst vorbei. Heute gewinnt niemand mehr zehn MotoGP-WM-Rennen im Jahr, auch bei den geplanten 21 Wettkämpfen nicht.

Marc Márquez siegte 2021 in Sachsen, Texas und Misano, er kassierte bei den letzten vier Rennen vor seinem Trainingsunfall 83 von 100 möglichen Punkten. Bagnaia 66, Quartararo 61.

Aber dann verletzte er sich wieder einmal beim Motocross-Training, auf das die meisten Stars während der Saison wegen des Risikos verzichten, zumindest die Titelanwärter.

Aber Honda verbietet Marc Márquez keine Risikosportarten, obwohl ihre heißeste MotoGP-Aktie mit einer (von Ducati) geschätzten Jahresgage von 15 bis 20 Millionen Euro dotiert ist. Die sechs Ducati-Werksfahrer zusammen bekommen wohl maximal die Hälfte dieser Summe – alle zusammen!

Honda hat in der erfolgreichen Marc-Márquez-Ära zahlreiche Talente der Konkurrenz überlassen – von Jack Miller und Fabio Quartararo, über Joan Mir bis zu Jorge Martin und Franco Morbidelli. Auch Enea Bastianini fuhr in der Moto3-WM vier Jahre lang auf Honda.

Aber HRC engagierte statt junger Überflieger lieber 2019 den satten Jorge Lorenzo und zum Zwecke des Familienfriedens Alex Márquez, danach Pol Espargaró.

Außerdem ist Honda seit drei Jahren nicht in der Lage, ein benutzerfreundliches Rennmotorrad zu bauen.

Marc Márquez übertünchte mit seiner Einsatzbereitschaft und seinem Können jahrelang alle Schwächen des Bikes. 2019 heimste er 420 WM-Punkte ein. Cal Crutchlow sammelte als zweitbester Honda-Werksfahrer unfassbare 287 Punkte weniger ein!

Marc Márquez: Der Wahnsinn hat Methode

Bei Marc Márquez liegt seit mehr als zwölf Jahren Genie und Wahnsinn dicht beisammen. Durch diese Konstellation hat er in der Motorrad-Weltmeisterschaft schon oft das Unmögliche möglich gemacht.

Das begann in der Moto2-Klasse, als er 2011 in Phillip Island auf den letzten Startplatz verbannt wurde und im Rennen auf Platz 3 vorpreschte. In Valencia 2012 musste er sich wegen einer Strafe ebenfalls auf den letzten Moto2-Startplatz stellen – und siegte auf nasser Fahrbahn trotzdem!

Aber schon damals musste ihm die Rennleitung regelmäßig auf die Finger klopfen – und ihn auf den letzten Startplatz verbannen, wegen Rempeleien oder Kollisionen im Training.

Aus dem Stegreif fallen mir gar nicht alle Heldentaten des 28-jährigen Spaniers ein. Aber der Ausnahmekönner erlitt 2015 im Silverstone-Warm-up bei einem Crash eine Schulterluxation und gab sich im Rennen gegen Jorge Lorenzo erst im Finish geschlagen. Er stürzte 2013 im FP1 in Mugello nach der Kuppe bei Start/Ziel mit 338 km/h, schrammte knapp an der Betonmauer vorbei und setzte sich im FP2 wieder ungerührt auf die Werks-Honda, mit ein paar Schrammen am Kinn. Dann platzte 2015 im Qualifying 2 in Austin/Texas sein Motor, er sprintete in die Boxengasse, schnappte sich in letzter Minute das Ersatz-Motorrad, legte eine Chaosrunde hin, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat – und fuhr Bestzeit.

Die sieben Texas-MotoGP-Siege von Márquez auf der wohl schwierigsten GP-Piste im Kalender gehen in die Geschichte ein, genauso wie die zehn Siege bei den ersten zehn Rennen 2014 und die acht MotoGP-Triumphe auf dem Sachsenring.

Sechs MotoGP-WM-Titel und 59 GP-Siege in der Königsklasse mit insgesamt 99 Podestplätzen und 62 Pole-Positions in neun MotoGP-Jahren, diese Bilanz spricht Bände.

Risikobereitschaft auf einem neuen Level

Wir wissen aber seit Jahren, dass im Gehirn bei Marc Márquez offenbar kein Angst-Gen existiert, auch sein Selbsterhaltungstrieb scheint – von außen betrachtet – nicht sehr ausgeprägt zu sein.

Rund 30 bis 35 Stürze pro Saison, unzählige und unbeschreibliche «Saves» bei Rutschern in brenzligen Situationen – Marc Márquez ist ein Grenzgänger, wie ihn die Motorrad-WM noch nicht erlebt hat. Er verschiebt die Grenzen der Physik, er tanzt mit Schräglagen bis 65 Grad um die Kurven und eilte in seinen besten Tagen von Sieg zu Sieg.

Der Katalane hat die Risikobereitschaft in der Königsklasse auf ein neues Level befördert. Zugleich hat er seinen Körper mit Muskeln gestählt, wie man sie sonst nicht einmal bei Zehnkämpfern sieht. Er trainiert mehr mit Offroad-Motorrädern auf unberechenbarem Untergrund als jeder andere und wappnet sich bestmöglich für gefährliche Zwischenfälle.

Marcs Verbissenheit geht so weit, dass sich sein Umfeld im Winter 2018/2019 gezwungen sah, alle seine Trainingsmotorräder in ihre Einzelteile zu zerlegen, um ein unerlaubtes Fahrtraining zu verhindern – nach der ersten Schulter-Operation.

Marc Márquez bringt sich aber bei allem Talent und Können immer wieder in Situationen, in denen er jegliche Vernunft verliert und sich vom Adrenalin getrieben zu irrwitzigen Aktionen hinreißen lässt. So bekam er 2013 beim MotoGP-Rennen auf Phillip Island die schwarze Flagge, weil er durch ein Black-out den vorgeschriebenen Pflichtstopp zum Reifenwechsel nicht erledigte.

Marc benahm sich auch 2015 in Sepang unsportlich, als er im Rennen seine Landsleute Pedrosa und Lorenzo unbehelligt flüchten ließ, seine eigenen Chancen nicht wahrnahm und sich in erster Linie bemühte, Rossis Titelgewinn zu verhindern.

2018 drehte er in Termas de Río Hondo durch, als er sein Bike am Startplatz abwürgte und dort zuerst gegen die Fahrtrichtung fuhr.

Der Repsol-Honda-Star wurde zum Start aus der Boxengasse verbannt, er rempelte sich nachher wutentbrannt durchs halbe Feld – und kassierte in 40 Minuten drei Strafen. Weltrekord!

Irgendeine Art von Fehlverhalten wollte Marc auch am folgenden Wochenende in Texas nicht eingestehen.

2019 wirkte Marc gereifter. Er beendete 18 von 19 Rennen in den Punkten, genauer gesagt in den Top-2! Zwölf Rennen gewann er.

In der WM lässt Márquez seit Jahren alle anderen Honda-Fahrer alt aussehen. Seit 2017 hat kein Repsol-Teamkollege einen GP-Sieg errungen. Selbst Dani Pedrosa gewann 2018 keinen Grand Prix mehr, die Honda RC213V wurde immer mehr auf den kompromisslosen Fahrstil des Serien-Weltmeisters maßgeschneidert.

Aber irgendwann muss Marc Márquez einsehen, dass er den Nimbus der Unbesiegbarkeit längst eingebüsst hat. Beim Jerez-GP am 19. Juli 2020 wusste der Titelverteidiger vom Samstag-Training (inklusive Sturz), dass er für diese Piste nicht über das beste Motorrad verfügte. Trotzdem wollte er um jeden Preis gewinnen. Nach dem frühen Warnschuss in Kurve 3 mit dem 160-km/h-Ausritt in den Kies drehte Marc Márquez erst recht auf. Aber dass man bei 55 Grad Asphalttemperatur nicht ewig in jeder Kurve beim Bremsen 30 Meter auf einen Viñales wettmachen kann und die Reifen diese Strapazen nicht 25 Runden lang mitmachen würden, das leuchtete jedem TV-Zuschauer ein.

Das Ende in Kurve 3 entpuppte sich damals als spektakulär, und erstmals in seiner GP-Karriere und nach wohl 200 Stürzen kam Marc Márquez nicht mit ein paar Schrammen davon.

Trotz des Oberarmbruchs schickte das Repsol-Team den Weltmeister am Samstag fünf Tage nach der Operation ins FP3. Dadurch entzündete sich der Bruch, es begann eine ewige Verletzungspause, das Comeback fand erst neun Monate später in Portugal statt.

Im Q1 von Mandalika schien Marc Márquez am Samstag wieder einmal nicht Herr seiner Sinne zu sein.

Schade. Denn Joan Mir und Fabio Quartararo haben ihre WM-Titel in den letzten zwei Jahren nicht zuletzt dank ihrer Beständigkeit gewonnen. Das ist ein Rezept, das auch Márquez 2022 zum Erfolg führen könnte, obwohl sein Bike nicht über alle Zweifel erhaben ist und sein körperlicher Zustand zu wünschen übrig lässt.

Vielleicht hat Márquez sein Mütchen durch die drei Mandalika-Crashes etwas gekühlt. Hoffen wir, dass er zumindest im Rennen die Ruhe bewahrt.

Denn für die Weltmeisterschaft wäre es traurig, wenn der Hexenmeister noch mehr Unheil anrichtet und in der Tabelle weiter zurückfällt.

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