Das Eigentor der «übermäßig ambitionierten» Stewards
Freddie Spencers FIM MotoGP Stewards Panel war in der laufenden Saison bereits viel beschäftigt und warf mit Sanktionen um sich wie der Kapitän eines sinkenden Schiffes, der sich von den unliebsamen Passagieren befreit.
Es zeichnet sich ein selbstgefälliges Bild, wenn man bedenkt, dass sie an zwei GP-Wochenenden nicht weniger als 14 Strafen verteilt haben. Dazu brachte Celestino Vietti bereits einen Long-Lap-Penalty aus dem Vorjahr mit.
Alles im Namen von mehr Sicherheit, für verschiedenste Vergehen, einschließlich missachteter Anweisungen, Frühstarts und natürlich «übermäßig ambitionierter» Manöver, so die Formulierung in den offiziellen Strafbescheinigungen (wobei man meinen könnte, dass dieser Ehrgeiz Teil der Job-Anforderungen an einen WM-Fahrer sei).
Die Sicherheit verbessern zu wollen ist natürlich ein nobler Ansatz, besonders in den aufregend verrückten Sprintrennen, in denen die Fahrer in den wenigen, aber intensiven Runden jegliche Vorsicht über Bord werfen, was (für alle, die jemals Clubrennen oder Speedway und Flattrack gefahren sind) die eigentliche Essenz des Motorradrennsports ist.
Echtes Racing, könnte man meinen, bei dem es rein auf die fahrerischen Fähigkeiten ankommt – ganz ohne Rücksicht auf Reifen- oder Sprit-Management oder irgendwelche taktischen Spielchen, abgesehen von den ausgefahrenen Ellbogen.
Angesichts der langen Liste an Verletzten allein in der Königsklasse (Pol Espargaró, Enea Bastianini, Marc Márquez und Miguel Oliveira beim ersten Grand Prix, Joan Mir beim zweiten), ist die Vorstellung erschreckend, wie viel schlimmer es ohne die beruhigende Wirkung der Stewards hätte sein können.
Freunde machen sie sich dabei keine. Dabei ist es nicht so sehr das Strafen an sich, mir dem sie anecken.
Fehlende Klarheit und Konstanz
Verrückte Aktionen müssen in Schach gehalten werden, das ist klar, auch wenn einige Maßnahmen übertrieben kleinlich zu sein scheinen. Etwa eine zuckende Bewegung, die als Frühstart keinen Vorteil bringt mit einem doppelten Long-Lap zu bestrafen, oder die Rückversetzung um einen Platz, nur weil man in der letzten Runde an der Außenkante der Track-Limits vorbeischrammt. Letzteres bringt nicht nur die Reihenfolge im Ziel durcheinander, sondern auch die Taktik der Fahrer.
Es ist vor allem die nicht gleichbleibende Linie, die Teams und Fahrer verärgert. Das fängt schon damit an, dass der Umweg im Falle einer Long-Lap-Strafe nicht auf allen Strecken gleich lang ist.
Wie es Yamaha-Rennchef Lin Jarvis im Vorjahr formulierte, als Fabio Quartararo für einen kleineren Fehler in Assen bestraft wurde, nachdem andere Fahrer für viel schlimmere Aktionen ungeschoren davongekommen waren: «Wir sind enttäuscht darüber, die Ungleichheit zu sehen, mit der Strafen vom FIM MotoGP Stewards Panel angewandt werden.»
Hinzu kommt die Willkür der Entscheidungen (die Stewards sind nicht verpflichtet, ihre Argumentation zu erläutern).
Wir erinnern uns: Beim Portugal-GP räumte Luca Marini Enea Bastianini ab, der sich dabei das Schulterblatt brach. In Argentinien schob Maverick Viñales Brad Binder weit und Takaaki Nakagami warf Fabio Quartararo ans Ende des Feldes zurück. Keine Strafen.
Als Marc Márquez aber in Portimão Miguel Oliveira abschoss, wurde er für sein «übermäßig aggressives» Manöver bestraft. In Las Termas gab es zudem ähnliche Sanktionen gegen Moto2-Rookie Sergio Garcia und Moto3-Pilot Scott Ogden, der in der letzten Runde CFMOTO-Ersatzmann David Almansa aus dem Podestkampf genommen hatte.
Alle waren «übermäßig ambitioniert», das steht außer Frage. Aber wo lag der Unterschied zwischen diesen Fehlern und den anderen, die nicht weiter verfolgt wurden?
Gleichzeitig muss man sich auch fragen: Ist das Strafmaß ausreichend? Nach dem Zwischenfall mit Márquez und Oliveira schlug Aleix Espargaró für solche Fälle eine Rennsperre vor, RNF-Teamchef Razlan Razali forderte die Regelhüter ebenfalls auf, härtere Maßnahmen zu ergreifen.
Wie gesagt, es geht nicht darum, sich Freunde zu machen.
Als die Stewards mit ihrem Elfmeter gegen Márquez letztendlich ein Eigentor schossen, lächelten die Kritiker daher höhnisch.
Der Fall Márquez
Zur Sachlage: Die Stewards hatten Marc einen doppelten Long-Lap-Penalty auferlegt, den er beim MotoGP-Rennen in Argentinien verbüßen sollte. Márquez erkannte seinen Fehler an und akzeptierte die Strafe.
Noch am selben Abend bestätigte sich bei Repsol-Honda-Star allerdings der Verdacht auf einen Bruch des ersten Mittelhandknochens. Er wurde am rechten Daumen operiert und war für den Argentinien-GP nicht fit. Somit war er nicht dazu in der Lage, die Strafe – wie ausdrücklich vorgeschrieben – in Argentinien zu verbüßen.
Die Stewards bemühten sich um eine hastige «Klarstellung» und behoben den Formfehler. Die Strafe sollte nun für Marcs nächstes MotoGP-Rennen über die volle Distanz gelten, wo auch immer das sein wird. Der Gerechtigkeit würde also Genüge getan.
Oder etwa doch nicht?
«Foul», prangerte Repsol Honda an und legte Protest ein. Es sei nicht regelkonform, eine endgültige und definitive Strafe nachträglich anzupassen.
Die Angelegenheit landete daraufhin bei den FIM Appeal Stewards, die sich mit der Sichtweise des Teams und dem Verfahrensfehler der Stewards befassten – und die heiße Kartoffel an das FIM-Berufungsgereicht («MotoGP Court of Appeal») weiterreichten.
Nun bleibt uns also nichts anderes übrig, als die Entscheidung der Herrschaften abzuwarten – und bis dahin das Unbehagen der allmächtigen, in diesem Fall aber übermäßig ambitionierten Stewards zu genießen, die sich genauso an die Regeln halten müssen wie die Fahrer.
Schließlich erinnern uns die Veteranen immer wieder gerne daran, dass Freddie Spencers «übermäßig aggressive» Attacke in der letzten Runde, als er Kenny Roberts in den Dreck schob und selbst die «Track-Limits missachtete», eigentlich zur Folge gehabt hätte, dass er einen Platz verloren und den Titel nicht gewonnen hätte, wenn es 1983 in Schweden bereits Stewards und Strafen gegeben hätte.