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Aprilia: Vom Underdog zum famosen Barcelona-Triumph

Von Günther Wiesinger
Aprilia Racing feierte am Sonntag in Barcelona den größten Triumph der MotoGP-Ära. Renndirektor Massimo Rivola kam 2019 als neuer CEO, seither ging es bergauf – bis zum ersten Doppelsieg in der MotoGP.

Doch der Weg an die Weltspitze in der «premier class» war steinig für das Werk aus Noale. Als Rivola im Januar zum Aprilia-Rennstall stieß, hatten ihn viele Spitzenkräfte verlassen, das Budget war mickrig im Vergleich zu den Konkurrenten aus Japan und Europa, ein Hauptsponsor fehlte und fehlt bis heute. Rivola, der aus der Formel 1 kommt und dort bei der Scuderia Toro Rosso und Ferrari tätig war, meinte letztes Jahr nach dem ersten Sieg von Aleix Espargaró: «Ich hätte gerne einen Sponsor wie Red Bull. Wir könnten für das Unternehmen aus Österreich das zweite Team sein – wie AlphaTauri in der Formel.»

Aprilia Racing kehrte 2015 mit einem modifizierten Claiming-Rule-Bike in die MotoGP-WM zurück. Die Fahrerpaarung bestand zuerst aus Álvaro Bautista und Marco Melandri, der im Juli gegen Stefan Bradl ausgetauscht wurde. Der italienische MotoGP-Teambesitzer Fausto Gresini bot Aprilia Racing für vier Jahr ein Joint Venture an und verleaste quasi seine beiden Startplätze an das Werk in Noale, weil er sein Honda-Team nach dem Ausstieg von Sponsor ein Go&Fun zusperren musste.

Später ist der Vertrag bis Ende 2021 um weitere drei Jahre verlängert worden. Für 2022 erhielt Aprilia von der Dorna zwei eigene Plätze, denn mit Teambesitzer Fausto Gresini war es immer wieder zu Reibereien ums Geld und zu Kompetenzstreitigkeiten gekommen. Der zweimalige 125-ccm-Weltmeister, vor eineinhalb Jahren an Corona verstorben, verbündete sein Team noch vor seinem Tod für 2022 mit Ducati – und Gresini Racing siegte im Vorjahr gleich beim ersten Rennen in Doha mit Enea Bastianini.

Bei Aprilia hielt sich bis Ende 2021 der technische Fortschritt in Grenzen. Selbst nach dem MotoGP-Einstieg von KTM 2017 hat Aprilia in der Konstrukteurs-WM dreimal in Serie den sechsten und letzten Platz belegt.

Aleix Espargaró beklagte noch 2019 mehrmals, an der Werks-Aprilia habe sich seit 2016 nichts Wesentliches verändert. Er schaffte in seiner dritten Aprilia-Saison nur fünf Top-Ten-Plätze und den 14. Gesamtrang mit 63 Punkten. Bruder Pol kassierte auf der KTM im dritten Jahr acht Top-Ten-Ergebnisse und 100 Punkte – er wurde WM-Elfter.

Danach warteten die Fahrer sehnsüchtig auf die neue Aprilia RS-GP 20 für die Saison 2020. Sie verfügte über einen neuen, kompakteren Motor mit 90 statt 72 Grad Zylinderwinkel. So einen Zylinderwinkel bevorzugen Honda, Ducati und KTM bereits seit Jahren. Danach ging es aufwärts, die Motoren wurden allmählich kräftiger und standfester.

Der neue Aprilia-Racing CEO und MotoGP-Teamprinzipal Massimo Rivola war erst im Februar 2019 zum Team gestoßen, das neue 2019-Bike war längst fertig. Der Neuling musste gleich einen Rückschlag hinnehmen. «An meinem ersten Arbeitstag hat Aprilia-Engine-Designer Ing. Mario Manganelli die Firma verlassen, er ist zu AMG Mercedes in die Formel 1 gegangen. Ich konnte ihm nur noch die Hand drücken, dann hat er ‚Ciao’ gesagt», berichtete Rivola.

Rivola arbeitete beim Paul Stoddard Minardi-Team, das dann an Red Bull verkauft wurde und anfangs unter der Bezeichnung Scuderia Toro Rosso auftrat. Rivola wechselte dann ins Formel-1-Team von Ferrari, wurde aber dort in die Academy abgeschoben.

Was Rivola 2019 bei Aprilia beobachtete, versetzte ihn nicht in Begeisterung. Er ließ mehrmals durchblicken, dass er sich seine Aufgabe leichter vorgestellt habe. Denn Aprilia verfügte über das geringste Budget, hatte keinen Hauptsponsor – und sollte trotzdem die Wünsche und Sehnsüchte von Piaggio-Group-Eigentümer Roberto Colaninno erfüllen, der vor zwei Wochen verstorben ist und schon 2017 in der WM unter die Top-5 kommen wollte.

Diese Devise wurde von Rivola und Technical Director Romano Albesiano für 2020 wieder neu ausgegeben.

Viel Grund zur Freude hatte Colaninno mit seinem MotoGP-Rennstall jahrelang nicht. Es kann sich auch niemand erinnern, wann der Milliardär zuletzt einen Grand Prix besucht hat.

«Existiert Colaninno wirklich?» lautete jahrelang ein Standard-Spruch der Dorna-Funktionäre.

Welche Durststrecke Aprilia von der MotoGP-Rückkehr 2015 bis zum Barcelona-GP 2023 durchmachen musste, zeigt diese Statistik:

Aprilia MotoGP-Saison 2016

Álvaro Bautista: 12. WM-Rang mit 82 Punkten
Stefan Bradl: 16. WM-Rang mit 63 Punkten
Konstrukteurs-WM: Rang 5 mit 101 Punkten
Team-WM: WM-Rang 7 mit 145 Punkten.

Aprilia MotoGP-Saison 2019

Alex Espargaró: 14. WM-Rang mit 63 Punkten
Andrea Iannone: 16. WM-Rang mit 43 Punkten
Konstrukteurs-WM: Rang 6 mit 88 Punkten
Team-WM: WM-Rang mit 106 Punkten.

Erst vier Jahre sind seither vergangen, Aprilia blickte damals auf eine ernüchternde und niederschmetternde Bilanz. Vor allem, wenn man sich vor Augen hielt, dass sich Aprilia mit 54 WM-Titelgewinnen (der letzte geschah 2014 mit Guintoli in der Superbike-WM) immer als italienischer Erzrivale von Ducati betrachtete, obwohl Ducati zum Beispiel 2022 die MotoGP-WM und die Superbike-WM dominierte und gewann und mit Andrea Dovizioso vorher schon dreimal knapp am Titelgewinn gescheitert ist.

Massimo Rivola hat jedoch bereits für 2020 ein paar neue Techniker engagiert. Und er erkannte frühzeitig, dass er für die RS-GP vielversprechende Aerodynamiker aus der Formel 1 brauchte.

– Paolo Biasio wurde für 2020 von Ducati zurückgeholt. Seine Aufgabe: Support engine development.

– Elena De Cia kam von Suzuki: Sie ist für den Bereich Electronic Development zuständig.

– Stefano Romeo war «trackside head of electronic» bei Ferrari in der Formel 1. Er war vorher bereits bei Aprilia Racing von 1999 bis 2002 tätig.

– Marco de Luca agierte 2020 neu als Head of Vehicle, er war bei Ferrari und McLaren als Aerodynamik-Experte engagiert.

– Als Aprilia-Botschafter und Fahrer-Berater ist Max Biaggi unter Vertrag.

Unter der Teamführung von Romano Albesiano fanden bis 2019 einige verwunderliche Entscheidungen statt. Er engagierte Reinfälle wie Marco Melandri, Sam Lowes und Scott Redding und dazu Mike di Meglio und dann Matteo Baiocco als MotoGP-Testfahrer, die bis zu 4 sec langsamer waren als die Stammfahrer. Auf die Dienste des sechsfachen Weltmeisters Max Biaggi verzichtete er.

Aber die Zyniker lachten: Dank Biaggi stand Aprilia 2019 wenigstens einmal auf einem GP-Podest. Das war in Brünn, als er als Sterilgarda-KTM-Teamteilhaber neben Sieger Aron Canet auf dem Podium feierte. In Aprilia-Klamotten.

Aber Massimo Rivola war durchsetzungsstark genug, um Aprilia nach vorne zu bringen. Dabei wurde ihm die Aufgabe nicht leicht gemacht, denn er verfügte im Gegensatz zu manchen Mitstreitern und internen Widersachern in Noale über keine Hausmacht. Er sei ein CEO ohne Geschäftsbereich, war anfangs aus Noale zu hören. Denn die Entscheidungen wurden bei Piaggio quasi nur von CEO Colaninno getroffen.

Für 2022: Trennung von Gresini, erstmals eigene Slots

Aprilia und Rivola schlossen sich beim Katar-GP 2019 dem Protest von Honda, Suzuki und KTM an, weil der umstrittene Hinterradflügel («spoon») von Ducati als illegal betrachtet wurde. Doch der Sieg von Andrea Dovizioso blieb bestehen.

Dieser Rechtsstreit der Werke führte zu einem tiefen Zerwürfnis und einer peinlichen Situation für die MotoGP-Szene innerhalb des Hersteller-Bündnisses MSMA. Im ganzen Jahr 2019 fand keine Sitzung der MotoGP-Hersteller mehr statt. Der Protest von Honda, KTM, Suzuki und Aprilia führte zu nichts. Der Flügel (er diente angeblich zur Kühlung des Hinterreifens) wurde später von allen Werken verwendet.

Rivola hat bei Piaggio seine neuen Techniker in Schlüsselpositionen manövriert und somit Technikchef Romano Albesiano entlastet. Weil es an Manpower fehlte, kam das Projekt der RS-GP 20 vor drei Jahren bei Aprilia mit der üblichen Verspätung an die Strecke. Die nächstjährige Maschine konnte deshalb im November nicht getestet werden. Alle anderen Hersteller hatten beim Valencia-Test bereits 2020-Prototypen im Einsatz.

Die Fahrer beschwerten sich damals laufend über die schleppende Weiterentwicklung.

Massimo Rivola musste eine Weile auf die zwei eigenen MotoGP-Plätze warten. Denn Dorna-CEO Carmelo Ezpeleta verlangte für die zwei MotoGP-Plätze von 2022 bis 2026 konkrete finanzielle Garantien von Colaninno. Denn Aprilia ist unter Vorgänger Ivano Beggio 2005 schon einmal vorzeitig aus einem gültigen MotoGP-Vertrag ausgestiegen – ohne die vereinbarte finanzielle Wiedergutmachung für die Dorna zu bezahlen.

Als die Kooperation mit Gresini beendet wurde, kamen für 2022 große finanzielle Investitionen auf Aprilia zu: Für Logistik, Hospitality, Technical Trucks, Personal und so weiter musste viel zusätzliches Geld aufgebracht werden.

Viel Zeit blieb Massimo Rivola also nicht. Colaninno verlangte Ergebnisse, er wollte endlich Erfolge sehen. Immerhin verschlang das Aprilia-MotoGP-Projekt 20 bis 30 Millionen Euro im Jahr. Dafür sollte es als Technologie-Vorreiter der ganzen Piaggio Group im Rampenlicht stehen.

Es ging danach ständig bergauf. Im August 2021 wurde Viñales nach dem Rausschmiss bei Yamaha als zweiter Werksfahrer engagiert. Rivola glaubte unverdrossen an ihn und sah sich gestern beim Barcelona-GP bestätigt.

Bereits 2022 kämpfte Aprilia Racing um den WM-Titel, und für 2023 wurde mit dem CryptoDATA-RNF-Team erstmals ein Kundenteam ausgerüstet. «Wir haben uns in den letzten zwei, drei Jahren mit den eigenen MotoGP-Slots und dem Kundenteam viel aufgehalst», räumte Massimo Rivola im Interview mit SPEEDWEEK.com ein. «Manchmal haben wir ein bisschen unterschätzt, welcher Aufwand für dieses Projekt notwendig war…»

Jetzt erntet die leidenschaftliche Aprilia-Mannschaft nach vielen Entbehrungen und Rückschläge die Früchte jahrelanger Arbeit.

Und niemand im Fahrerlager missgönnt dem jahrelangen Underdog diesen grandiosen Triumph. Denn der Doppelsieg wäre höchstwahrscheinlich auch ohne das Ducati-Debakel mit den Stürzen von Enea Bastianini und Pecco Bagnaia zustande gekommen. 

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