Michelin-Manager Taramasso: Martins Reifen zu kalt
Die Katastrophe des offiziellen Sepang-Tests ereignete sich bereits in den ersten 90 Minuten des ersten Tags. Weltmeister und frischer Aprilia-Hoffnungsträger Jorge Martin war bereits nach vier Runden in Sepang außer Gefecht. In Kurve 2 war der Grip am Hinterrad an Martins RS-GP25 schlagartig abgerissen – der Spanier flog unkontrolliert ab und schlug der Länge nach hart auf dem Asphalt auf. Ein Crash der härtesten Kategorie und die Verletzungen des Piloten an Hand und Fuß könnten als glimpflich bezeichnet werden. Doch die Frakturen bedeuten zugleich einen verheerenden Saisonstart für das ambitionierte Aprilia-Projekt. Sicher ist: Jorge Martin wird mit höchster Wahrscheinlichkeit für den nächsten und letzten Test in Buriram ausfallen.
Entsprechend breitete sich im Lager aus Noale große Betroffenheit und auch Frust aus. Aprilia-Racing-CEO Massimo Rivola hatte am Abend nach Martins Unfall Stellung genommen. Auch wenn der Italiener keine Schuldzuweisungen machte, legten die kurz nach dem Unfall des Werksfahrers getroffenen Aussagen unweigerlich nahe, dass wohl nur ein fehlerhafter Reifen die Ursache des Desasters sein könnte.
Rivola: «Es ist extrem unglücklich. Ich meine, Jorge ist kein Amateur wie ich, er ist ein MotoGP-Pilot und Weltmeister. Was wir jetzt wissen, ist, dass Jorge keinen Fehler gemacht hat und dass sein Motorrad technisch komplett in Ordnung war.»
Massimo Rivola ergänzte: «Wir haben hierzu im Moment keine Antwort. Fakt ist: Die Reifen waren jeweils auf der richtigen Temperatur, auch der Luftdruck war korrekt. Wir haben nach dem ersten Sturz nicht gewechselt. Montiert war hinten ein Medium-Slick. Dazu ist zu sagen: Das ist ein Reifen mit einer asymmetrischen Konstruktion. Die Mischung unterscheidet sich rechts und links. Ich habe mich bereits nach der exakten Historie des verwendeten Reifens erkundigt, aber derzeit haben wir hier noch keine Informationen.»
Zwei Tage später liegen nun genau diese Informationen vor. Michelin hat den Vorfall intensiv untersucht. Das Ergebnis wurde am Freitagvormittag vom verantwortlichen Rennsport-Manager Piero Taramasso vorgestellt. Der Italiener kam bald auf den Punkt: «Dank der Zusammenarbeit mit Aprilia – sie haben uns das gesamte, extrem umfangreiche Datenpaket zur Verfügung gestellt – können wir nun über Fakten reden.»
«Im Reifen gibt es mehrere Temperaturbereiche, es sind vier, und wir konnten nun die gesamte Historie des Reifens auswerten. Der für uns entscheidende Bereich, der uns verrät, ob ein Reifen wirklich funktioniert, ist der Bereich der inneren Karkasse. Und wir können nun sagen, dass dieser Bereich zu dem Zeitpunkt, als Jorge die Box verlassen hat und als er den Unfall hatte, um 15 Grad niedriger war als ein Wert, den wir als normal definieren.»
Taramasso erklärte weiter: «Es ist wichtig zu verstehen, dass wir nicht von der vom Team gemessenen Oberflächentemperatur des Reifens reden. Diese war in Ordnung, doch die Temperatur der inneren Materiallage war zu niedrig. Der Wert an dieser Stelle ist hochrelevant. Alle Elemente arbeiten am Limit und bereits fünf Grad Abweichung in diesem Bereich sind kritisch.»
Der Michelin-Manager nannte auch mögliche Gründe für die zu geringe Temperatur: «Es gibt mehrere Möglichkeiten und Ursachen, die auch zusammen dazu geführt haben. Wir wissen, die Streckentemperatur am Vormittag war mit 30 Grad für Sepang-Verhältnisse vergleichsweise niedrig. In der Nacht zuvor hatte es leicht geregnet. Ein weiterer, wenn auch kleiner Faktor: Aprilia hat die Box eher am hinteren Ende der Boxengasse. Dadurch hat der Reifen in der In-Lap mehr Zeit, um sich abzukühlen.»
Auch Sturz Nummer 1, der sich nur zwei Runden zuvor in Kurve 1 abgespielt hat, könnte einen Einfluss gehabt haben. Taramasso: «Durch den ersten Crash war die Runde zurück in die Box etwas langsamer, auch das kann eine Rolle bei der Temperatur gespielt haben.»
Zusammengefasst: Michelin hat anhand von Daten jegliche Fehlfunktion des Reifens von sich gewiesen. Nach allen jetzt vorliegenden Erkenntnissen ereignete sich der Crash des Weltmeisters durch eine zu geringe Temperatur im inneren Reifenmaterial.
Wissentlich wurde Martin nicht mit einem zu kalten Reifen auf die Strecke geschickt, denn die Temperatur an der Oberfläche war korrekt. Verhindert hätte der «Funktionsverlust» ein geänderter Kontrollprozess und die Auswertung aller Daten des sogenannten «Tire Pressure Monitoring Systems» vor der Ausfahrt.
Eine, vor allem für Jorge Martin schmerzhafte Erkenntnis – doch zugleich auch eine gute Nachricht. Durch die Auswertung des Datenprotokolls konnte die Ursache des Unfalls stark eingegrenzt werden.