Lucio Cecchinello (LCR): Was er über Jack Miller sagt
Jack Miller: Bart ab beim letzten Grand Prix mit LCR
Lucio Cecchinello, Besitzer des LCR-Honda-Teams, traute seinem Schützling Jack Miller in der ersten MotoGP-Saison einiges zu. Er sagte vor dem Saisonstart, Miller solle in der Open Class um den Titel fighten und die WM unter den Top-Ten beenden.
Schliesslich enttäuschte der Moto3-Vizeweltmeister von 2014 seinen Teamchef über weite Strecken.
Der Australier kam in 18 Rennen nur sechsmal in die Punkte, in der Open-Wertung wurde er Dritter hinter Héctor Barbera und Loris Baz, in der WM-Tabelle reichte es nur für den 19. WM-Rang mit 17 Punkten.
Das kann man als beachtlich einschätzen, wenn man berücksichtigt, dass Miller als erster Fahrer den Weitsprung von der 55 PS starken 250-ccm-Einzylinder-Moto3-KTM auf die 1000-ccm-Honda mit 260 PS gewagt hat, wenn man bedenkt, wie mühselig die Einheits-ECU von Magneti Marelli für die Open-Fahrer war, wenn man einrechnet, dass er kein Seamless-Getriebe hatte und die Konkurrenz in der Königsklasse so stark und ausgeglichen war wie selten zuvor.
Zur Erinnerung: Stefan Bradl landete in der WM einen Platz vor Miller, Nicky Hayden einen Platz hinter ihm.
Sein bisheriger LCR-Teamkollege Cal Crutchlow hält grosse Stücke auf Miller. «Wenn Jack 2016 die gleiche Elektronik hat wie alle andern und eine echte Factory-Honda, wird er einige Leute überraschen. Er kann in fünf Jahren einige MotoGP-Titel gewinnen. Jack leistet gute Arbeit, ohne Zweifel.»
Crutchlow machte aber auch eine Einschränkung: «Wenn Jack nächstes Jahr vorbereitet zu den Rennen kommt...»
Dieser Eindruck setzte sich nämlich bei HRC und LCR in der vergangenen Saison fest: Jack Miller leistet sich einen Lifestyle, der in der Moto3-WM noch für Siege taugte, in der MotoGP-WM aber nicht für die grossen Erfolge ausreicht.
Lucio Cecchinello musste jedenfalls beim Brünn-GP lange überlegen, als ich ihn fragte, ob er Miller mit dem aktuellen Wissenstand lieber eine Moto2-Saison verordnet hätte als den direkten Sprung in die Königsklasse.
HRC will Miller genauer überwachen
Auch bei HRC gab es Krisensitzungen wegen Miller, denn er hat einen Drei-Jahres-Vertrag mit den Japanern. Als LCR ohne Sponsor CWM dastand, musste von HRC ein neues Zuhause für Jack gesucht werden. Zudem wurde diskutiert, dass Miller aus seinem Haus im Süden von Barcelona ein Stück nach Norden in die Obhut von HRC-Berater Alberto Puig übersiedelt, der ehemalige Trainer von Alex Crivillé sollte seine Konditionstraining gestalten und überwachen. Miller sollte nur zu Weihnachten zwei Wochen nach Australien fliegen dürfen, weil er dort womöglich in falsche Gesellschaft geraten udn einen unsportlichen Lebenswandel führen würde. Er müsse seinen Lebenswandel ohnedies gehörig umstellen, mehr Ausdauertraining machen und wieder etwas Gewicht verlieren, wurde ihm eingetrichtert.
Das liegt auch im Interesse des Marc VDS-Teams, in das Miller inzwischen transferiert wurde. Marc VDS-Teamprinzipal Michael Bartholemy macht kein Geheimnis daraus, dass er es als wichtige Aufgabe betrachtet, Miller zu mehr Professionalität zu erziehen. Mit Tito Rabat hat Marc VDS einen MotoGP-Neuling im Team, dessen Trainingsfleiss legendär und vorbildlich ist.
Jack Miller hat sich den Forderungen von HRC bisher nicht gebeugt, er will sein eigener Herr bleiben und nicht unter der Fuchtel von Puig stehen. Aus seiner Sicht verständlich.
Jacks persönlicher Manager Aki Ajo unterstützt Miller in diesem Bestreben. «JackAss» soll zeigen, dass er auch mit seinem eigenen Umfeld und dem bisherigen System zum Erfolg kommen kann.
Lucio Cecchinello liess 2015 mehrmals durchblicken, dass er Millers konditionelle Vorbereitung für nicht ausreichend hielt. Er sah das Potenzial des Australiers, das immer wieder aufblitzte, er sah aber auch die Mängel in der inkonstanten Performance des Neulings.
«Als wir uns zusammen mit Honda im Sommer 2014 entschieden haben, Jack Miller direkt in die MotoGP-Klasse zu befördern, war das ein grosses Risiko», sagt Cecchinello. «Von der Moto3 in die MotoGP, das ist ein wirklich grosser Schritt. Das ist nicht nur ein grosser Schritt, was die Fahrweise des Motorrads betrifft. Es ist auch ein grosser Schritt bei der mentalen Einstellung, bei der mentalen Herangehensweise. Sie ist so erbarmungslos hart, so anspruchsvoll. Du kommst aus der Moto3... Das ist eine Einsteigerklasse, alles ist nett und unterhaltsam. Alles macht Spass. In der MotoGP findest du ein ganz anderes Spannungsfeld vor. Die Umwelt ändert sich, die MotoGP ist die Königsklasse, die beste Zweiradrennserie der Welt. Du hast plötzlich viermal so viel Hubraum wie vorher, du fängst von vorne an. Du musst dich vier- oder fünfmal mehr anstrengen als in der Moto3. Ich glaube, Jack ist hier mit der Einstellung eines Moto3-Fahrers eingetroffen, was normal und menschlich ist. Er hat dann definitiv ein paar Monate gebraucht, um sich eine klare Vorstellung von der MotoGP-Kategorie zu verschaffen.»
«Und ich habe in der zweiten Saisonhälfte beobachtet, dass sich Jacks Zugang und seine Einstellung wirklich verbessert und verändert hat», schilderte Lucio. «Es macht mich traurig, dass uns Jack nach dieser Saison verlassen hat. Denn ich glaube, dass ich den wichtigsten und grössten Teil der Arbeit mit ihm schon verrichtet habe... Bei den letzten Rennen hat Jack gezeigt, dass er konkurrenzfähig sein kann. Er kämpfte bei vielen Rennen um den ersten Platz in der Open Class. Es ist wirklich schade, dass wir dieses Projekt mit ihm aufgeben mussten. Aber alle Leute wissen, dass wir 2015 zwei Fahrer einsetzen konnten, weil wir einen Hauptsponsor hatten. Dieser Sponsor ist nicht mehr vorhanden. Also können wir nur einen Fahrer einsetzen...»
Cecchinello möchte versuchen, für 2017 wieder zwei Fahrer unter Vertrag zu nehmen. Wird er sich dann bemühen, Jack Miller zurückzuholen?
«Ja», antwortet der italienische LCR-Teambesitzer. Dann fügt er schmunzelnd an: «Vielleicht... Ich habe bereits mit Honda und der Dorna über diese Möglichkeit gesprochen. Natürlich verliere ich für 2016 den zweiten Teamplatz. Aber ich kann meine Rechte für 2017 wieder geltend machen. Ich werde dann allerdings beim zweiten Platz wie ein Neueinsteiger behandelt, ich würde also im ersten Jahr die ganzen finanziellen Vergütungen verlieren. Das ist ein Problem, das sich nicht ändern lässt... Wir kämpfen weiter.»