Zielflaggen-Pannen: Model erzwingt Reglement-Änderung
In loser Reihenfolge gehen wir in Form von «SPEEDWEEKipedia» auf Fragen unserer Leser ein. Dieses Mal will unser Leser Peter-Paul Wagner aus Bremen wissen: «Vor kurzem hat ein Kumpel behauptet, die Formel 1 habe das Reglement geändert, weil das Model Winnie Harlow 2018 die Zielflagge falsch gezeigt habe. Stimmt das?»
Ja und nein. Das Reglement ist tatsächlich geändert worden. Aber das zunächst verspottete kanadische Model trifft keine Schuld. Der Reihe nach: Als die Zielflagge zum Grossen Preis von Kanada zu früh fiel, war die scheinbar Schuldige schnell gefunden – das kanadische Star-Model Winnie Harlow. Tenor in den sozialen Netzwerken: Der Kleiderständer sei halt zu doof, um die karierte Flagge zur rechten Zeit zu zeigen. Aber der Autoverband FIA korrigierte diese unfaire Fehleinschätzung. In Tat und Wahrheit hatte Harlow die Anweisung erhalten, die Flagge zu zeigen und tat, wie ihr geheissen. Jetzt mal ehrlich: Wer von uns hätte schon zurückgefragt, ob es wirklich der richtige Zeitpunkt ist?
Harlow wurde der Befehl zum Abwinken zu früh erteilt, weil der Repräsentant des örtlichen Motorsportvereins das entsprechende Zeichen zu früh gab. Er hatte bei der Rennleitung nachgefragt, ob sich das Rennen in der letzten Runde befände und diese hatte den Funkspruch nicht als Frage verstanden und deshalb mit einem Okay quittiert.
Mit dem Fall Winnie Harlow war das Fass überlaufen. Die FIA führte daraufhin zur Saison 2019 ein: Die karierte Flagge gibt es noch, aber sie ist nicht primär massgeblich. Passiert mit dem Schwenken der klassischen Zielflagge ein Faux-pas, so wie am Ende des Kanada-GP 2018, werden die Piloten dennoch ein Signal erhalten – auf einem LED-Bildschirm. Und dieses Signal ist massgeblich.
Das Gleiche wie in Kanada 2018 ist in Shanghai 2014 passiert, ebenfalls wegen eines Kommunikationsfehlers. Fehler gab es auch in Interlagos 2002, Buenos Aires 1978 und Monaco 1970, um drei Situationen zu zeigen.
Zwei Runden vor Schluss des Grand Prix ausserhalb von Shanghai 2014 wurde Formel-1-Starter Charlie Whiting vom chinesischen Renndirektor Zhuang Tao gefragt, ob in der zweitletzten Kurve die weisse Flagge gezeigt werden solle. Allein für diese Flagge müsste hätte Tao die schwarze Flagge erhalten sollen (oder die rote Karte, ganz wie Sie wollen): Seit wann wird das in der Formel 1 bitteschön denn getan? In den USA in der IndyCar- und NASCAR-Serie, gewiss, aber nicht im GP-Sport. Die meisten Fans wissen so etwas, wieso weiss es Tao nicht?
Es kam noch schlimmer. Whiting, leicht perplex, antwortete, nein, natürlich nicht. Worauf Tao dem Mann mit der karierten Flagge sagt: «No flag now.» (Keine Flagge jetzt.) Ob der arme Chinese mit der karierten Flagge in der Hand nur «Flagge jetzt» gehört hat oder das erste «no» (nein) auch als «now» (jetzt) verstand, ist nicht ganz klar. Jedenfalls hielt er wacker die karierte Flagge hinaus.
Rennleader Lewis Hamilton funkte sofort an die Mercedes-Box: «Äh, ich habe eben die Flagge gesehen!» Und das eine Runde zu früh, in der 55., statt in der 56. Runde. Gemäss Reglement muss in solchen Fällen das Klassement der Runde zuvor verwendet werden, also nach 54 Runden.
In Brasilien 2002 war es umgekehrt: Da wurde die Flagge nicht zu früh, sondern zu spät gezeigt. Damals wurde die Fussball-Legende Pelé (eigentlich Edson Arantes do Nascimento) gebeten, den Interlagos-GP zu beenden. Die Organisatoren waren so ergriffen von der Präsenz ihres Idols, dass dem Fussballer nicht gesagt wurde, wann er die Flagge raushalten soll.
Sieger Michael Schumacher flitzte über die Ziellinie – keine Flagge. Da plauderte Pelé im Rennleiterhäuschen gerade mit einem Mann. Ferrari-Star Schumacher wundert sich später: «Ich fuhr die Faust aus dem Cockpit und dann dachte ich – wo nur ist die Flagge?»
Der zweitplatzierte Ralf Schumacher flitzte über die Ziellinie – keine Flagge. Dann erwachten die Brasilianer aus ihrem Tiefschlaf, und der überrundete Takuma Sato erhielt als Erster die karierte Flagge gezeigt.
In Buenos Aires 1978 war es ausgerechnet Rennlegende Juan Manuel Fangio, der den falschen Piloten abwinkte! Statt des Siegers Mario Andretti winkte Fangio den ebenfalls für Lotus fahrenden Ronnie Peterson als Ersten ab, doch der Schwede war nur Fünfter. Weil die ersten Vier (Andretti, Lauda, Depailler und Hunt) eine Runde mehr fahren mussten, entschloss sich die Rennleitung, eine Runde abzuziehen.
Und dann war da natürlich Monaco 1970, als Jochen Rindt in seinem Lotus den führenden Jack Brabham in einen Fehler jagte. Was dann geschah, konnte niemand auf Erden besser formulieren als mein Journalisten-Vorbild Dieter Stappert, damals legendärer Schriftleiter von «powerslide».
Geniessen Sie jedes seiner Worte.
«Brabham spürt auf einmal den Druck, er spürt, dass er das, was da von hinten auf ihn zukommt, nicht aufhalten kann, er schiesst ein letztes Mal, ein allerletztes Mal auf die Gasometer-Haarnadel zu, in der Mitte der Strasse, links vorne sind Courage und Peterson, zum Überrunden, aber die halten sich weit aus der Schusslinie, und Brabham kommt daher, mit einem Irrsinnstempo, Mensch, denk ich, ich glaub’, ich spinn, wieso bremst der nicht?. Aber er hat gebremst, nur zu spät, ausserdem ist er zu weit rechts, ganz innen, da liegen Dreck und Staub und Gummibrösel, und Brabham rutscht, rutscht an uns vorbei, die Räder blockiert und voll eingeschlagen, immer geradeaus, und da kommt Jochen, schaltet runter wie in der Fahrschule, dritter, zweiter, erster, schaut nach links, wo der Brabham in den Strohballen hängt, ein Streckenposten ist ihm auf die Schnauze gefallen, und der Lotus umrundet die Haarnadel und biegt als erster in die krumme Zielgerade ein, die Tribünen explodieren, Hemden, Jacken, Anoraks, Hüte, Programme, alles fliegt durch die Luft, das Geschrei der Leute übertönt fast den Motorenlärm, und auf der Ziellinie steht der Mann mit der Flagge, er wartet auf Jack Brabham, die Flagge oben, der Mann glotzt dem Lotus mit offenem Mund nach, die Augen quellen ihm heraus, grenzenloses Unverständnis, ein einziges Fragezeichen, jetzt dreht er sich wieder um, jetzt, endlich, kommt der Brabham, mit zerknitterter Schnauze, wieder glotzt der Mann dem Auto nach, wieder fällt die Flagge nicht, und erst als Pescarolo kommt, da wird dem Mann klar, dass er nicht geträumt hat, dass Rindt Erster ist und Brabham verloren hat, und der Mann senkt die Flagge und das Rennen ist aus.»