GP-Debüt von Johnny Herbert: Unsägliche Schmerzen
Der 55jährige Johnny Herbert ist aus der Formel 1 nicht wegzudenken. Der quirlige Engländer war der Daniel Ricciardo seiner Generation – mit viel Talent gesegnet, immer für einen Spass zu haben. Auch ein schwerer Unfall in der Formel 3000 (Vorläufer der heutigen Formel 2) konnte ihn nicht von seinem Traum Formel 1 abhalten. Selbst wenn Johnny nach seinen schweren Beinbrüchen das Gleiche sagt wie Marc Surer nach ähnlichen Verletzungen: «So schnell wie vor dem Unfall konnte ich nicht mehr fahren.» Nach dem üblen Crash in Brands Hatch vom 21. August 1988 war es sogar eine Weile unklar, ob die Ärzte die Füsse des Rennfahrers retten können.
«Vor meinem Unfall in Brands Hatch 1988 war ich davon überzeugt – mir passiert so etwas nie. Und als es doch passiert war, ertappte ich mich beim Gedanken: ‘So etwas passiert mir kein zweites Mal.’ Aber körperlich war nachher alles anders.»
«Als Pilot verlässt du dich sehr auf körperliche Empfindungen. Ich war vor meinem Crash auf der Bremse der grosse Held, besonders auf nasser Bahn konnte ich in meinen Zehenspitzen fühlen, wie viel Druck ich anwenden musste, um die Kurve perfekt anzubremsen. Aber nach meinem Unfall, bei dem meine Füsse zerschmettert worden waren, hatte ich dieses Gefühl nicht mehr. Die Finesse war weg. Nun verliess ich mich mehr auf mein Sehvermögen. Und dann waren da die Schmerzen. Ich hatte immer Schmerzen. Noch heute sitze ich hier und meine Füsse fühlen sich wund an.»
«Schlimm war nach dem Unfall die Isolation. Ich konnte den Leuten nicht sagen, wie schlimm es wirklich um mich stand. Hätte ich die Wahrheit gesagt, wären die Fragen erst recht losgegangen: ‘Wie gut ist er noch? Sollen wir ihm ein Auto geben?’ Also musste ich ganz alleine damit fertigwerden. Das war sehr schwierig.»
Und dann passierte Anfang 1989 so etwas wie ein Rennwunder: Herbert belegte am 26. März bei seinem GP-Debüt in Rio mit Benetton den vierten Platz. «Ich war vier Wochen vor dem Rennen nach Brasilien geflogen, weil wir eigentlich testen sollten. Aber der Sprit kam nicht an, und wir sassen die erste Woche nur herum. Der Test dauerte vier oder fünf Tage. Gehen war höllisch schmerzhaft, daher bewegte ich mich meist mit einem Klapprad. Luciano Benetton und Flavio Briatore zweifelten daran, ob ich das durchhalte. Ich musste zudem den FIA-Aussteigetest bestehen, das Limit lag damals bei sieben Sekunden, heute sind es fünf. Ich schaffte es in sechs aus dem Wagen, auch wenn ich gewaltig auf die Zähne beissen musste.»
«Mehr als zwölf Runden war ich vor dem Rio-Test nie am Stück gefahren. Das Rennen führte aber über 61 Runden. Später fand ich heraus, dass die Mechaniker untereinander Wetten am Laufen hatten, wie lange ich wohldurchhalten würde. Die höchste Zahl lautete 20. Dann fuhr ich eine komplette Rennsimulation. Ich blieb erst stehen, als das Benzin ausging. Das hat einige Schrauber mächtig beeindruckt.»
«Zweifel blieben. Mein Manager Peter sagte, Luciano und Flavio wollten mich im Hotel sehen. Ich wusste genau, worum es geht. Seltsamerweise war dies das erste Mal, dass ich Briatore überhaupt traf. Er schaut mich an, als sei ich schales Bier und meinte: ‘Wir glauben nicht, dass du das schaffst, Johnny.’ – ‘Wieso nicht? Ich habe eben eine Rennsimulation gefahren’, antwortete ich. Es war offensichtlich, dass sie das nicht gewusst hatten. ‘Das war nicht unter echten Rennbedingungen’, fanden sie.»
«Erst später erfuhr ich, dass Emanuele Pirro am Römer Flughafen bereitstand, um nach Südamerika zu jetten. Hätte mich Peter nicht gebeten, auf die Zähne zu beissen und die Rennsimulation zu fahren, wäre ich in diesem Moment draussen gewesen.»
«Am Renntag fühlte ich mich fabelhaft. Ich hatte meinen Stallgefährten Alessandro Nannini um zwei Zehntelsekunden geschlagen und ging als Zehnter ins Rennen.»
Herbert zeigte ein grosses Rennen und rückte durch einige Ausfälle Platz um Platz hoch. «Ich hatte unsägliche Schmerzen. Da waren auf einmal Buckel in der Piste, die hatte ich früher überhaupt nie bemerkt. Am schlimmsten war es in der Rechtskurve, die auf die Gegengerade führte. Da knallte mein linker Fuss immer an die Innenseite des Monocoques. Mit der Zeit war mir schlecht vor Schmerz. Ich habe im Laufe des Wochenendes einiges Male geweint im Wagen.»
«Als die karierte Flagge gezeigt wurde, war meine erste Reaktion: Enttäuschung. Ich war ganz dicht dran gewesen an Mauricio Gugelmin, und ich dachte, der Grand Prix dauere eine Runde länger. Ich hätte Dritter werden können. Aber ich wurde Vierter, einen Rang vor Nannini und als erster Fahrer nach neun Jahren und Alain Prost 1980, der beim Debüt gleich punkten konnte.»
«Ich bezweifle, dass es viele Rennfahrer gibt, die ihr GP-Debüt in einem Zustand wie ich damals gegeben haben. Meine Füsse sahen noch immer aus wie etwas, das du beim Metzger auf dem Boden findest. Als ich an die Box zurückrollte und meine Frau Becky sowie Peter sah, brachen alle Dämme. Als wir in den Gästebereich kamen, waren Benetton, Briatore und Nannini schon ins Hotel gefahren. Das war sehr enttäuschend. Sie hatten an diesem Abend keinen Flug. Sie hätten mir gratulieren oder immerhin eine Nachricht hinterlassen können. Ich finde das heute noch ziemlich jämmerlich.»
Herbert hat eine schöne GP-Karriere erlebt: Er fuhr von 1989 bis 2000 in 161 WM-Läufen mit, bei Benetton, Tyrrell, Lotus, Ligier, Sauber, Stewart und Jaguar. Er gewann in Silverstone und Monza 1995 für Benetton sowie auf dem Nürburgring 1999 für Stewart.
Heute arbeitet er als GP-Experte für die britische Sky, für GP-Freunde auf der ganzen Welt ständig ansprechbar, ein Formel-1-Haudegen zum Anfassen. Die Fragen der Fans kreisen oft um die gleichen Themen: Wie fühlt es sich wirklich an, einen Formel-1-Boliden zu kontrollieren? Wie geht man mit Druck um?
Der WM-Vierte von 1995 spielt herunter, wie schwierig es ist, einen GP-Boliden zu beherrschen. «Für die Fahrer fühlt sich das an, als würde der Fan zum Supermarkt fahren, es geht einem einfach in Fleisch und Blut über. Auch wenn die Geschwindigkeit etwas anders ist! Für uns fühlen sich Tempi jenseits von 300 Sachen ganz normal an. In unserem Kopf spielt sich alles viel langsamer ab, als es in Wirklichkeit passiert. Das gibt uns die Möglichkeit, fast immer die Kontrolle zu behalten.»
«Meine Töchter reiten. Und sie sprechen oft darüber, wie schwierig es ist, ein Pferd zu kontrollieren, weil es eben seinen eigenen Willen hat. Das ist mit einem Rennwagen durchaus vergleichbar, denn so ein Auto fühlt sich lebendig an. Du musst dich auf Reifentemperaturen einstellen, die sich ändern, auf andere Pistenbedingungen, auf die Eigenheiten eines bestimmten Fahrzeugs. Du musst dich teilweise dem Fahrzeug anpassen, um das Beste rauszuholen. Ich glaube, was Spitzenpiloten wie Lewis Hamilton, Nigel Mansell, Damon Hill, Ayrton Senna und Alain Prost alle hatten, das war eben die Gabe, sich auf all die ständigen Veränderungen blitzschnell einstellen zu können.»
Der Le-Mans-Sieger von 1991 (mit Mazda) sagt über das Thema Druck: «Jeder geht damit anders um. Lewis Hamilton sondert sich gerne ab, dann steht er bei der Präsentation alleine auf dem Lkw, ganz in seine eigene Kopfhörerwelt vertieft. Er befindet sich quasi in einer Blase. Auf der anderen Seite der Skala findet ihr Daniel Ricciardo, der herumalbert. Das ist seine Art und Weise, mit Druck umzugehen. Jeder muss für sich selber herausfinden, wie er sich am besten konzentrieren kann.»
Beim früheren Mercedes-Duell zwischen Lewis Hamilton und Nico Rosberg galt der Engländer als der Instinktfahrer und der Deutsche als jener Pilot, der sich mit härtester Arbeit Vorteile erschafft. Bei Hamilton ist dieser Eindruck nicht ganz falsch, wie Johnny Herbert bestätigt: «Ich habe Lewis einmal gefragt, wohin er blickt, wenn er in eine Kurve einlenkt. Er meinte, er wisse es nicht, es passiere einfach. Was wirklich an Bord geschieht: Seine Augen nehmen auf, was alles um ihn herum passiert und wandelt das automatisch ins richtige Verhalten um. Das meinte ich vorhin mit dem Fahren zum Supermarkt. Eine Kurve anfahren, das wird so normal, dass ein GP-Pilot nicht mehr darüber nachdenkt.»
Auch Herbert bedauert, dass wir in der Formel 1 Partylöwen in der Art von James Hunt verloren haben. Für Johnny gibt es einen Schuldigen, die ganzen sozialen Netzwerke: «Damals gab es kein Twitter oder Facebook. Wenn ein Fahrer heute mal auf den Putz haut und das twittern würde, dann wären die Geldgeber garantiert nicht belustigt. Wir leben nun mal in einer anderen Welt. Bei James in den 70ern stand der Spass im Vordergrund, zwischendurch wurde es ernst und ein Rennen fand statt. Dann aber wieder zurück in den Party-Modus. Die heutigen Piloten pendeln nur noch vom Flughafen zum Hotel zur Rennstrecke und zurück. Der Glamour ist der Formel 1 ein wenig abhanden gekommen – leider.»