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Coronakrise Brasilien: Jair Bolsonaro übler als Trump

Von Mathias Brunner
​US-Präsident Donald Trump belügt die Bevölkerung, jeden Tag. Jair Bolsonaro, Staatschef von Brasilien, ignoriert Corona. Dafür handeln Gesundheitsministerium und Lokalpolitiker. F1-Journalist Livio Oricchio berichtet.

Welche Ironie, dass Brasiliens Staatspräsident Jair Bolsonaro zum zweiten Vornamen ausgerechnet Messias heisst. Der königliche Heilsbringer aus dem Alten Testament, der Befreier, der Erlöser aus religiöser oder sozialer Unterdrückung – das ist Messias. Der 65jährige Jair Bolsonaro hingegen, seit Ende Oktober 2018 an der Macht, gilt höflich formuliert als Coronakrisen-Verharmloser, wenn er etwa den Virus als «gripezinha», also als «Grippchen» bezeichnet.

Politiker auf der ganzen Welt kämpfen gegen die Corona-Pandemie, viele von ihnen zeigen Umsicht und sind weise genug, auf kluge Fachleute zu hören – und dann handeln sie mit notwendiger Strenge. Bolsonaro gehört nicht zu diesen Politikern. Viele Brasilianer bezeichnen ihn als Corona-Leugner. Schon den Klimawandel wollte der fünffache Familienvater wegreden. Hat auch nicht funktioniert.

Während die Mitglieder des Gesundheitsministeriums ihn darum baten, sich in Isolation zu begeben, während auf seine Corona-Testergebnisse gewartet wird, pfiff der Populist darauf und kümmerte sich lieber um seinen Machtkampf mit dem Kongress. Er warf sich in Brasilia in die Menge, schüttelte Hände und signalisierte damit dem Volk – ihr habt nichts zu befürchten.

Noch vor wenigen Tagen geisselte er die Medien, sie würden die ganze Corona-Sache aufbauschen, siehe Grippchen. Das Vorgehen von Lokalpolitikern, von Gouverneuren und Bürgermeistern, die verzweifelt versuchen, ihre Mitbürger zu schützen, nennt er «Wahnsinn. Die Gouverneure sind Job-Killer, sie verursachen eine Krise, die schlimmer ist als der Virus. Die Medien und die Gouverneure wollen mich stürzen.»

Sein Einfühlungsvermögen für Menschen, die krank werden, die sterben, die ihre Liebsten verlieren, bewies Bolsonardo mit den denkwürdigen Worten: «Die Leute sterben nun mal, tut mir leid. Wenn wir einen Verkehrsunfall haben, dann schliessen wir auch keine Autofabrik.»

Livio Oricchio berichtet seit 31 Jahren aus der Formel 1. Der Brasilianer war mit Ayrton Senna befreundet, kann auf mehr als 500 Grands Prix zurückblicken und lebt in São Paulo (Grossraum: 22 Millionen Einwohner). Die Armenviertel des Wirtschaftsmotors von Brasilien wären ein idealer Nährboden für die Verbreitung des Virus.

Als offiziell erkrankt gelten in Brasilien 4256 Menschen, an Corona verstorben sind 136. Aber die meisten Berichterstatter in Brasilien trauen diesen Zahlen so wenig wie ihrem Präsidenten. Sie gehen von einer erheblichen Dunkelziffer aus und bezeichnen ihr Land in der Krise auf Regierungsebene als führungslos.

Livio schreibt: «Das öffentliche Gesundheitswesen in Brasilien ist mangelhaft, das medizinische Niveau hingegen hoch. Das Ministerium für Gesundheit hat jedoch recht früh Richtlinien darüber erlassen, wie sich die Menschen verhalten sollen, um die Verbreitung des Virus zu hemmen. Zu meiner Überraschung reagieren die Brasilianer disziplinierter als ich gedacht hätte.»

«Das sonst so wirbelige São Paulo ist sehr ruhig geworden, du siehst wenig Menschen. Die Geschäfte mussten schliessen, Supermärkte und Apotheken ausgenommen. Der öffentliche Verkehr ist praktisch zum Erliegen gekommen. Gewiss, unsere Zahlen sind derzeit noch niedrig, Fachleute erwarten den Höhepunkt an Erkrankungen erst in zwei Wochen. Bislang ist unser Gesundheitssystem noch nicht kollabiert. Wir hoffen, dass wir mit einem blauen Auge davonkommen.»

«Die Entscheidungsträger von Brasilien konnten in Asien und Europa sehen, was Corona anrichtet. Wir hatten Zeit, um reagieren zu können. Die Gouverneure und Bürgermeister und das Gesundheitsministerium haben alle umsichtig reagiert, während sich unser Staatspräsident als ignorant und unvorbereitet erwiesen hat. Er stellt bis heute in Frage, ob die ganzen Einschränkungen für die Bürger überhaupt notwendig seien.»

«Wir leben in einem riesigen Land mit 210 Millionen Menschen. Nur den Massnahmen der Gesundheitsbehörden und der Lokalpolitiker ist es zu danken, dass gehandelt wurde. Die meisten Brasilianer sind mit den Beschränkungen vollauf einverstanden, weil sie den Ernst der Lage verstanden haben. Und nur dies sind die Gründe, warum die Zahlen in Brasilian bislang nicht sprunghaft angestiegen sind.»

«Noch sind wir im grünen Bereich. In Brasilien sterben keine Menschen aus Mangel an Beatmungsgeräten. Aber wir müssen wahnsinnig aufpassen, dass wir die Lage im Griff behalten. Wenn der Virus bei uns ausser Kontrolle gerät, dann wird das zur Tragödie.»

«Die meisten Menschen haben Corona zu Beginn wenig ernst genommen. Sie glaubten Bolsonaro, einem früheren Militär mit beschränkter Bildung. Ihm gegenüber stehen nicht nur die erwähnten Lokalpolitiker, ich finde auch, dass die brasilianische Presse einen tollen Job macht. Sie haben den Menschen früh und sehr drastisch vor Augen geführt, was in China passiert, dann in Italien und Spanien, wie die Menschen zu Hunderten sterben. Den meisten Brasilianern ist deshalb trotz Bolsonaro glasklar: Corona ist sehr gefährlich und tötet.»

«Ich finde es bemerkenswert, wie unser Gesundheitsministerium vorpreschte und handelte. Es hat das Richtige getan und auch rechtzeitig.»

«Was mich persönlich angeht, so sitze ich die meiste Zeit in meiner Wohnung hier in São Paulo, während meine Frau in Nizza lebt. So getrennt zu sein und zu wissen, dass wir uns eine Weile nicht sehen können, ist nicht leicht. In schwierigen Zeiten willst du deinen Liebsten nahe sein.»

«Aber ich habe grosses Glück: Um meine Wohnung herum gibt es ein paar Spazierwege. Zudem haben wir keine Ausgangssperre. Ich darf also zum Beispiel in meine kleine Zweitwohnung fahren, die 40 Minuten ausserhalb von São Paulo liegt, mitten in Mutter Natur. Die Menschen in Brasilien sind überaus gesellig, sie lieben es, Freunde zu treffen, zum Strand zu fahren, ins Restaurant zu gehen, das alles findet derzeit nicht statt. Aber gemessen an anderen Menschen bin ich in einer überaus privilegierten Situation.»

«Ich kann mich auch glücklich schätzen, dass alle meine Verwandten und Freunde gesund sind. Besonders Angst habe ich um meine Tochter, sie ist Ärztin.»

«Natürlich frage ich auch mich besorgt, wo das alles hinführen soll. Mein Job besteht darin, für webmotors.com.br/wm1 von Formel-1-Rennen zu berichten, und das ist derzeit nicht möglich. Ich weiss nicht, wie lange unsere Geldgeber da zuschauen.»

«Ich hoffe inständig, dass sich die ganzen Massnahmen auswirken und dass die Zahl neuer Erkrankungen in ungefähr zwei Wochen zu fallen beginnt. Sollte dies eintreffen, könnte Brasilien im Mai zu so etwas wie Normalität zurückfinden.»

«Der Bundesstaat São Paulo hat alle Rennsportaktivitäten verboten. Die Organisatoren der brasilianischen StockCar-Meisterschaft und des Porsche-Cups können bis heute nicht sagen, wann die Meisterschaft losgehen soll. Alles ist lahmgelegt. Die Auswirkungen der Coronakrise auf die Wirtschaft werden auch den Motorsport treffen. Rennställe werden ihre Sponsoren verlieren, Startfelder werden schrumpfen. In Brasilien haben Viele wenig und Wenige viel. Wir haben zahlreiche Motorsportler, die aus purem Vergnügen auf die Bahn gehen und das alles aus der eigenen Tasche bezahlen. Für sie wird es kein Problem sein, diese Krise zu überstehen.»

«Und die Formel 1? Wenn die ganzen Massnahmen in Europa wie erhofft greifen, könnten die Zahlen Ende Mai fallen. Im allerbesten Fall könnte eine Saison im Juli beginnen, vielleicht mit dem Grand Prix von Österreich. Ich halte das wirklich für machbar. Aber die letzten Wochen haben auch gezeigt, wie schnell sich die Situation ändern kann.»

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