John Barnard: Theorie über Michael Schumacher
Manchmal lohnt es sich, ein Buch von hinten zu beginnen, so wie bei «The Perfect Car», der Biographie über den genialen John Barnard. Ganz zum Schluss finden wir dort eine Liste von Neuerungen, die der Londoner im Rennwagenbau eingeführt hat. Um nur einige zu nennen: Kohlefaser-Monocoque, Bodeneffekt-Auto im IndyCar-Sport, halbautomatisches Getriebe mit Wippenschaltung hinterm Lenkrad, Einzelstütze für den Heckflügel, Colaflaschen-Form am Heck, seitliche Luftleit-Elemente (barge boards), Motoraufhängung am Chassis mit nur vier Bolzen, Drehstäbe anstelle von Federn, die Liste ist sehr lang.
Schon als Kind war John nicht der Einfachste. Heute würden wir so etwas als verhaltensauffällig bezeichnen, und Eltern sässen bei einem Spezialisten, um es abklären zu lassen. Dabei steckte in diesem Jungen einfach ein Genie. Als es um den Abschluss im Fach Werken ging, zimmerten einige ungelenk an einem Kerzenständer. John Barnard baute ein Rennboot, zur grossen Begeisterung seines Lehrers.
John Barnard erhielt seinen ersten Job beim legendären Lola-Gründer Eric Broadley, er wechselte erstmals zu McLaren (1972 bis 1975), als Emerson Fittipaldi Weltmeister wurde. Dann ein Intermezzo in den USA: Barnard Seite an Seite mit den Grössten der Branche – Parnelli Jones, Mario Andretti, Johnny Rutherford, Jim Hall. Das Abenteuer Nordamerika endet mit einer riesigen Enttäuschung.
Barnard kehrt zurück nach Europa und schloss sich dem neuen McLaren-Team an, in welchem nun Ron Dennis das Sagen hatte. 1984, 1985 und 1986 folgten mit Niki Lauda und Alain Prost weitere Titel. In dieser Phase erhielt John einen wenig schmeichelhaften Spitznamen: «Prinz der Dunkelheit». Mitarbeiter erzählten, wie es ihnen schon halb den Magen umdrehte, wenn sie nur Barnards Auto aufs Gelände fahren hörten. Ein angenehmer Chef war er gewiss nicht.
John Barnard erlag anschliessend der Verlockung Ferrari und schaffte, was niemand für möglich gehalten hätte: Der grosse Enzo Ferrari erlaubte, dass ein Auto in England konzipiert wird. Was dem Alten verschwiegen wurde: In Italien entstand ein Konkurrenzauto! Dies ist nur eine Episode aus der Schlangengrube Maranello. Benetton-Manager Flavio Briatore lockte mit Engelszunge, Barnard wechselte zum englischen Team, wo Michael Schumacher seinen ersten GP-Sieg eroberte. Aber auch das Kapitel Benetton endete mit Wut und Enttäuschung. Also zurück zu Ferrari, wo John Barnard das Fundament zur grössten Siegesserie der Italiener goss. Barnard leitete Entwicklungen ein, die Michael Schumacher zu fünf WM-Titeln in Folge verhalfen, von 2000 bis 2004, eine bis heute unerreichte Serie.
Und über genau diesen Michael Schumacher hat sich Barnard Gedanken gemacht, genauer thematisiert der Designer, wieso eigentlich das letzte Formel-1-Kapitel des grossen Schumi – 2010 bis 2012 bei Mercedes-Benz – keine Erfolgsgeschichte wurde. Schumacher wurde drei Mal in Folge über die Saison von Nico Rosberg geschlagen und stand nur noch einmal auf dem Siegerpodest, in Valencia 2012. John Barnard sagt im einem Podcast der Formel 1: «Michael war sehr schnell, aber ich mochte die Abstimmung seines Autos nie. Für mich war sein Set-up einfach der falsche Weg.»
«Es gab bei Mercedes ziemlich oft die Situation, dass er nicht annähernd den Speed von Nico erreichte. Ich dachte mir: ‚Das ist wirklich merkwürdig, irgend etwas geht hier doch vor.’ Meine Theorie, und das ist wirklich nur mein Gedankenmodell, besteht darin, dass Rosberg ein Auto bevorzugte, das auf der Hinterachse stabil liegt. Dann fand Nico einen Weg, mit dem unvermeidlichen Untersteuern umzugehen.»
Michael Schumacher hingegen verblüffte seine Techniker und auch Fahrerkollegen immer wieder mit unfassbarer Fahrzeugbeherrschung, er mochte einen Wagen, der knackig einlenkt und der an der Hinterachse durchaus lebhaft sein durfte. Als Gerhard Berger und Jean Alesi Ende 1995 zu Benetton kamen, war es ihnen schleierhaft, wie Schumi mit einem so abgestimmten Wagen derart schnell fahren konnte. Bei Nachsaison-Tests trudelten der Tiroler und der Südfranzose immer wieder von der Bahn.
John Barnard sagt weiter: «Ich habe damals bei Ferrari versucht, Michael meine Sichtweise näherzubringen. Ich bleibe bis heute überzeugt, dass ein Rennwagen dann am schnellsten ist, wenn das Heck stabil liegt. Einfach, weil der Fahrer auf diese Weise früher aufs Gas gehen kann. Aber Michael ist nie so gefahren, weil er viel lieber das Heck mit dem Gas ausbalancierte.»