Mercedes-Benz beim Türkei-GP: Alles ist anders
Michael Schumacher (Mercedes) 2011 vor Felipe Massa (Ferrari)
Seit dem letzten Formel 1-Rennen auf dem Intercity Istanbul Park in der Türkei sind neun Jahre vergangen, und die Königsklasse des Motorsports hat sich im Vergleich zur Saison 2011 stark verändert.
Wie sehr haben sich die Fahrzeuge und die Technologien in diesem Zeitraum gewandelt? Es gibt offensichtliche Unterschiede, die vor allem Regeländerungen geschuldet sind. So sind die Autos im Jahr 2020 breiter und länger, weisen grössere Flügel, niedrigere Nasen und den Kopfschutz Halo auf. Aber die Unterschiede gehen viel tiefer – deshalb wagen wir einen Blick unter die Haube.
In der Saison 2011 kamen 2,4-Liter-V8-Saugmotoren zum Einsatz, die 18.000/min drehten und 95 kg wogen. Dazu gehörte die erste Hybrid-Technologie mit einer so genannten KERS-Einheit, die kinetische Energie beim Bremsen zurückgewann. Das verschaffte dem Fahrer für 6,7 Sekunden pro Runde eine Zusatzleistung von 80 PS, die er zu einem selbst gewählten Zeitpunkt einsetzen konnte. Dank KERS (kinetic energy recovery system) stieg die Höchstleistung der Motoren auf 815 PS.
Seit der Einführung des Hybrid-Reglements im Jahr 2014 kommen in der Formel 1 nun 1,6-Liter-V6-Turbo-Motoren zum Einsatz, die 145 kg wiegen (Mindestgewicht) und 15.000/min drehen. Die Maximalleistung ist deutlich höher, da diese Power Units (Antriebseinheiten) mehr als 100 PS zusätzlich erzeugen, gemessen an den V8-Motoren 2011. Gleichzeitig erreicht eine PU aus dem Jahr 2020 eine thermische Effizienz (Menge an Energie, die aus dem Kraftstoff in genutzte Arbeit umgewandelt wird) von mehr als 50 Prozent. Im Jahr 2011 lag dieser Wert bei 30 Prozent.
Der Leistungsanstieg, die höhere Effizienz und das höhere Gewicht sind grösstenteils auf das ausgeklügelte Hybrid-System zurückzuführen, das in der modernen Formel 1 zum Einsatz kommt. Dieses besteht aus dem Energiespeicher (ES), der Kontrollelektronik (CE) und zwei Quellen für zusätzliche Power, einer Motor-Generator-Einheit Kinetisch (motor generator unit kinetic, kurz MGU-K), die Energie beim Bremsen erzeugt, und der Motor-Generator-Einheit Hitze (motor generator unit heat, kurz MGU-H), die Leistung aus den Auspuffgasen gewinnt. Die zusätzliche elektrische Leistung aus dem ERS-System wird im Laufe einer Runde freigegeben und gibt dem Fahrer im Vergleich zur KERS-Einheit aus der Saison 2011 für einen längeren Zeitraum mehr Hybrid-Power.
Die modernen Hybrid-Systeme verbessern die Fahrbarkeit der Autos, da das elektrische System sofort Drehmoment erzeugen kann. Dadurch lässt sich die Leistungskurve des Verbrennungsmotors (internal combustion engine, kurz ICE) glätten, zum Beispiel beim Hochschalten.
Die heutigen Motoren müssen auch viel haltbarer sein: Im Jahr 2011 standen für die 19 Rennen pro Auto und Saison acht Motoren zur Verfügung. Heute müssen die Teams nur eine viel kleinere Menge an Power Unit Komponenten zurückgreifen: drei Verbrennungsmotoren, Turbolader und MGU-H-Einheiten sowie zwei Einheiten der MGU-K sowie der Kontrollelektronik.
Eine nicht ganz so offensichtliche Veränderung fand an der Elektronik der Fahrzeuge statt. In der Saison 2011 zeichnete ein Formel-1-Auto rund 500 Datenkanäle auf. Die 2020er Autos sind auf 1500 Hochratenkanäle und mehrere tausend Hintergrundkanäle beschränkt. Die verstärkte Datenaufzeichnung hat Einfluss auf die Menge an Daten, die ein einzelnes Auto im Laufe eines Rennwochenendes sammelt. Beim Grossen Preis der Türkei 2011 kamen über das Wochenende 18 GB pro Auto zustande. An diesem Wochenende werden es knapp 70 GB sein.
Ein weiteres Beispiel ist die Art und Weise wie die Teams Informationen über die Reifentemperatur sammeln. In der Saison 2011 setzte Mercedes-Benz grosse, externe Infrarot-Kameras ein. Heute sind die Sensoren komplett integriert und geben dem Fahrer zu jeder Zeit Zugriff auf mehrere, verschiedene Informationen zur Reifentemperatur.
Die Regeländerungen haben im Laufe der Jahre dazu geführt, dass die Formel-1-Autos im Jahr 2020 klobiger ausfallen. Die Fahrzeuglänge beträgt nun über fünf Meter (2011 waren es noch 4,8 Meter). Die heutigen Autos sind auch breiter: zwei Meter im Vergleich zu 1,8 Meter im Jahr 2011. Sie sind zudem erheblich schwerer, was vorwiegend am Hybridantrieb liegt. 2011 wogen die Autos noch 640 kg, in diesem Jahr sind sie 746 kg schwer.
Aber die Autos haben sich nicht nur in ihren Dimensionen verändert, sie produzieren auch deutlich mehr Abtrieb. Dadurch ist die Belastung der Reifen stark angestiegen. Auf einer Runde im Istanbul Park wird erwartet, dass die Vorder- und Hinterreifen rund 50 Prozent mehr belastet werden als noch in der Saison 2011. Wenn wir uns nur Kurve 8 ansehen, steigt die Belastung dort für die rechten Vorder- sowie Hinterreifen um 30 bis 40 Prozent an.
Gleichzeitig haben sich auch die Reifen erheblich verändert. Der letzte Grosse Preis der Türkei fand in der ersten Formel-1-Saison von Pirelli als Einheitsreifenhersteller statt. Seitdem haben sich die Konstruktion und die Struktur der Reifen verändert. Sie sind nun breiter und fallen durch die Regeländerungen aus dem Jahr 2017 rund 25 Prozent grösser aus. Durch die grössere Kontaktfläche mit der Strecke erzeugen die Reifen mehr Grip und dadurch schnellere Rundenzeiten.
Im Jahr 2011 fuhr Red-Bull-Pilot Sebastian Vettel beim Türkei-GP in 1:25,049 Minuten auf die Pole-Position. Wir erwarten, dass die 2020er Autos mit der höheren Leistung und mehr Abtrieb im Qualifying-Trimm mindestens vier Sekunden schneller sein werden.
In diesem Jahr kommen die drei härtesten Reifenmischungen von Pirelli zum Einsatz. Es wird schwierig, die Reifen mit den modernen Autos auf Temperatur zu bringen. Das ist das genaue Gegenteil zu dem, was wir im Mai 2011 in der Türkei erlebt haben.
Grosser Preis der Türkei: Das Goldene Buch
2005: Kimi Räikkönen (FIN), McLaren-Mercedes
2006: Felipe Massa (BR), Ferrari
2007: Felipe Massa (BR), Ferrari
2008: Felipe Massa (BR), Ferrari
2009: Jenson Button (GB), BrawnGP-Mercedes
2010: Lewis Hamilton (GB), McLaren-Mercedes
2011: Sebastian Vettel (D), Red Bull Racing-Renault