Sebastian Vettel: Sein Höhenflug von drei Jahren
Vettel schnappt Alonso die Kronen weg
Nachdem er den Titelgewinn 2009 knapp verpasst hat, macht Sebastian Vettel 2010 im gleichen Stil weiter. Der Heppenheimer Red Bull Racing-Pilot folgt gierig seinen Zielen, vertraut seinen Instinkten und Mitstreitern. Sonst niemandem mehr. Er lebt in der Schweiz, zieht sich privat etwas mehr zurück, sammelt noch konsequenter Energien als zuvor und geht auf das grosse Ganze: den ersten Titelgewinn.
Doch es kommt, was kommen muss. In jeder Rennfahrerkarriere: Der Crash, in diesem Fall mit dem zehn Jahre älteren Teamkollegen Mark Webber in Istanbul. Im Nachgang Schimpfworte, Stinkefinger, Medienrummel, Ablenkung, Zoff im Team, Trotzhaltung beim Fahrer. Also eine klassische Destabilisierung. Logische Folge: Ein Fehler in Budapest (nach der Safetycarphase). Dann ein tölpelhaft wirkender Crash mit Button in Spa-Francorchamps. Es ist ein langer, heisser Sommer.
Aber wem es zu heiss wird in der Küche, der sollte draussen bleiben. Vettel bleibt mitten drin und kocht weiter sein Süppchen. Balaklava auf, Visier runter – und wieder raus aus dem Schmollwinkel, ohne sich zu verbiegen: «Ich werde nichts ändern.» Er spielt jetzt Oli Kahn, den Titan. «Immer weiter», war dessen Motto. Seb fährt weiter, immer auf Angriff – und stabilsiert sich trotzdem. So sammelt er sich, gewinnt, gewinnt wieder. Er begreift, was Kahn meint: Immer weiter machen, ach so geht das.
Seitdem hat Vettel sich gefunden. Er hat seine Panzerung erprobt. Sie hat standgehalten. Und mit dieser Rüstung ist er fortan unterwegs. Vettels Rezept heisst: Ändere wenig, bleibe du selbst! Trainiere wie immer! Arbeite hart! Überlasse nichts dem Zufall! Mach’ deine Spässe, lass’ dich nicht vereinnahmen, achte auf deine Freiräume, erhalte dir deine Lockerheit, denn sie ist Teil deiner Stärke! Fahr’ bloss deinen Stiefel runter!
Sein Team hat, als das Feld 2010 auf die Zielgerade der WM einbiegt, beinahe schon viel zu viele Fehler gemacht. Taktische, bei Boxenstopps, mit der Standfestigkeit. Die Punkte zerbröseln wie Feinstaub. Für die Taktik ist da kein Raum mehr. Vettel liegt eigentlich hoffnungslos zurück. Vor dem Finale mit 15 Punkten auf Fernando Alonso im Ferrari. Er bläst einfach weiter, was die Kiste hergibt. Natürlich ganz vorne. Er schaut nie zurück in diesem Rennen, nie auf die anderen, denn er weiss genau: Was immer er auch gesehen oder erfahren hätte, es hätte ihm nicht geholfen. Ihm half nur ein Sieg. Und am Ende hat er das Glück, dass dieser Sieg reicht. Und dass Ferrari sich im Finale von Abu Dhabi selbst besiegt.
So könnte man es sehen, muss man aber nicht. Es war nämlich kein Glück, wenn man Franz Tost, Vettels Ex-Chef, glauben darf. Tost sagt: «In der Formel 1 gibt es kein Glück.»
Vettel war einfach ungeheuer schnell, und das permanent. Webber zum Beispiel begann unter diesem – seinem – Druck zu schwächeln. Man sieht: Druck aufzubauen ist auch ein Rezept, dass Vettel beherrscht.
Druck standzuhalten, das ist der Gegenentwurf zu diesem Konzept. Dazu bedarf es noch stärkeren Nerven. Auch dies ist im Falle Vettel nicht gerade die Schwach-Stelle, wie seine beängstigendes Steigerungspotenzial in Qualifikationsabschnitt 3 regelmässig offenbart. Schon früh wird er deshalb mit dem grossen Ayron Senna verglichen, dem einstigen Gott dieser einen, schnellen und entscheidenden Qualifikationsrunde.
Am 14. November 2010 ist Vettel als Sieger des Abu Dhabi-GP zum ersten Mal Weltmeister, wie auch sein Team Red Bull Racing – und weiss: «Diesen Erfolg kann uns niemand mehr nehmen.»
2011 lässt er es dann richtig krachen. Mit elf Siegen, 15 Pole-positionen. Vettel und der RB8 sind eine Macht. Aber vor allem: Vettel und sein Team. Beide minimieren ihre Fehlerquote. Den Teamkollegen (Mark Webber), die potenziell grösste Bedrohung für jeden Fahrer, hat er da längst geknackt. Dass Vettel und seine Mannschaft in der Folge ihr Potenzial beständig auf derart hohem Niveau abrufen, sieht man selten in der Formel 1. Die Fehler der Vorsaison zahlen sich aus. Beide haben daraus gelernt.
2012 kommt Vettel zur Abwechslung mal wieder von hinten. Die Regeländerungen killen das konsequente Konzept des angestellten Autos von Red Bull Racing und dessen besondere Gabe, die Auspuffgase als Strömungshilfen zu nutzen. Der RB8 ist so spitz, dass die Abstimmung zum Kunststück wird. Er ist – im Zusammenspiel mit den Pirellireifen – ein Rückschritt. Er fährt sich auch konventioneller. Das filigrane Zusammenspiel des Gaspedals und des Anblasens des Hecks mit Gasfuss fällt weg. Die Autos fahren sich mehr wie früher, auch wegen der Reifencharakteristik, weshalb besonders in der ersten Saisonhälfte die älteren Fahrer plötzlich Oberwasser gewinnen. Eben dieser Webber, der Vettel in den Qualifikationen neun Mal hinter sich lässt, oder Michael Schumacher, auch Kimi Räikkönen (der allerdings in der zweiten Saisonhälfte noch besser wird).
Vettel hingegen hat einen Vorteil und viele Punkte verloren. Er muss im Sommer mit 40 Zählern Rückstand auf Alonso neu aufbauen, genau wie Konstrukteur Adrian Newey. Erst Ende September in Singapur finden Newey und Vettel wieder zu gewohnter Stärke zurück –vornehmlich wegen eines neuen Frontflügels, der endlich bei allen Fahrzuständen so die Strömungsluft nach hinten weiter transportiert, wie im Voraus berechnet. Vettel kann attackieren und gewinnt (auch, weil Hamiltons McLaren mal wieder in Führung liegen bleibt). Es ist der Auftakt zu vier Vettel-Siegen – mit 1111 Führungskilometern in Serie. In Südkorea knöpft er dem Langzeit-Führenden Alonso die Spitzenposition der WM-Wertung ab…
Der Spanier wird nervös. Er greift spätestens ab Herbst pausenlos in die Psycho-Kiste, um seinen deutschen Widersacher zu verunsichern, aber ohne Erfolg. Vettel spielt einfach nicht mit und bleibt bei seinem Motto: Nicht kirre machen lassen, nicht ablenken lassen. Und wenn der Spanier meint, Vettel könne nur in überlegenen Autos des genialen Designers Adrian Newey gewinnen, dann solle der das ruhig glauben, lässt Vettel ausrichten. Es spräche aber nicht Alonso, so zu denken. Mit diesem kühlen Statement und weiteren 25 Zählern verabschiedet sich der Hesse aus Abu Dhabi.
In Austin/Texas beendet Hamilton im vorletzten Rennen das Vettel-Intermezzo, wobei er nach epischer Verfolgung Vettels den zu überrundenden Karthikeyan ausnutzt. Red Bull Racing und Vettel beklagen sich über den Inder. Im Eifer des Gefechts fallen hässliche Worte, wie «Inder-Wahnsinn». Die allgemeine Haltung dazu ist geprägt von Unverständnis. Und das hat Gründe. Es ist schon das dritte Mal in diesem Jahr, dass Vettel und sein Team mit dem Finger auf Hinterbänkler oder angeblich störende Kollegen zeigen. Und wenn es einen Schönheitsfleck an Vettels Triumphzug 2012 gab, dann diesen.
Der Erfolg hängt bis zur letzten Runde der Saison am seidenen Faden. In Brasilien ist Vettel nach 600 Metern und Kollision mit dem Senna-Williams eigentlich schon aus dem Rennen, fällt ganz ans Ende des Feldes zurück, fährt aber bei extrem schwierigen Bedingungen und mehrfach wechselndem Wetter vom letzten auf den sechsten Platz vor. Er muss bis ins Ziel zittern, ob der malträtierte RB8 hält. Dieser Vettel, der angeblich keine Rennen von hinten fahren kann, hat es wieder geschafft. Natürlich war es auch Glück, dass der RB8 nach dem Rammstoss von Sennas Williams noch fahrtüchtig war. Aber Glück muss man sich erarbeiten: Was Vettel in diesem lädierten Auto zeigte, war sicher kein Glück.
Alonso hätte in diesem Finale nur Erster anstatt Zweiter werden müssen. Zwischen ihm und dem WM-Titel stand nur Jenson Button. Alonso hat lange gebraucht, bis er nach dieser erneuten Niederlage seinem deutschen Widersacher den Titel wünschen konnte. Erst Mitte Dezember drückte er seine Anerkennung für Vettel aus. «Er ist ein verdienter Weltmeister.» Und ein dreifacher dazu.