Tempo-Irrsinn Baku: Pirelli hat grossen Respekt
Noch gehen die Schätzungen auseinander. Konservative Berechnungen ergeben für die Top-Speed auf der neuen Baku-Strassenrennstrecke gut 340 km/h. Andere Simulationen sind eher näher bei 360 Sachen. So oder so: Die gut zwei Kilometer lange Vollgaspassage auf dem Baku City Circuit erzeugt bei Formel-1-Alleinausrüster Pirelli höchsten Respekt, denn die Techniker des italienischen Traditionskonzerns befürchten bei den hohen Geschwindigkeiten so genannte stehende Wellen, die zu Reifenschäden führen können.
Zuletzt haben wir solche Bewegungen im Reifen auf der belgischen Highspeed-Bahn von Spa-Francorchamps erlebt, dort in der doppelten Belastung von Eau-Rouge-Senke und hohem Tempo.
SPEEDWEEK.com-Leser erinnern sich: Pirelli hatte 2013 in der Saison bei der Reifenschulter von einem Stahlgürtel zurück auf einen Ring aus Kevlar umgestellt.
Pirelli-Rennleiter Paul Hembery damals: «Der Stahlgürtel ist in einer bestimmten Richtung angewinkelt, daher die Belastung am falschen Ort durch das Umdrehen. Kevlar ist nicht ganz so steif wie Stahl und führt zu einem weniger heissen Reifen, du erhältst in Sachen Belastung mehr Spielraum.»
«Die Verwindungs-Charakteristik des 2012er Reifens ist anders, das Phänomen der so genannten «standing waves» ist geringer.» Wir sprechen hier vom Effekt beim sich schnell drehenden Rad (siehe Bild), der Reifen beginnt sich an den Rändern zu verformen, vor ein paar Jahren erzeugten entsprechende Fotos eines Bridgestone-Reifens am Ferrari von Michael Schumacher Verblüffung. Das Phänomen ist seit den 50er Jahren bekannt, aber bis heute nicht vollständig physikalisch erklärbar.
Stehende Wellen waren auch der Grund für das Michelin-Reifendebakel von Indianapolis 2005 – als Rechtsanwälte den Franzosen nach grossen Problemen im Training von einem Rennstart abrieten. Damals kehrten die Michelin-Renner nach der Aufwärmrunde, also vor dem eigentlichen Start, an die Box zurück, nur sechs Bridgestone-Autos gingen in den Grossen Preis der USA, die Formel 1 erlebte eine ihrer blamabelsten Stunden.
Die erneuten Wellen am Ferrari von Sebastian Vettel, die Reifenschäden am Silberpfeil von Nico Rosberg und am Ferrari von Vettel kurz vor Schluss des Belgien-GP führten zu strikten Kontrollen von Pirelli, was die Reifendrücke angeht.
Paul Hembery bestätigt, dass in Baku sehr genau beobachtet wird, was die Reifen auf den langen Geraden machen. Hohe Tempi werden zwar auch in Monza und in Mexiko-City erreicht, dort waren die stehenden Wellen aber kein Thema.
Sorgen machen auch jene Pistenpassagen, die entlang der Stadtmauer führen und auf Kopfsteinpflaster liegen.
Pistenarchitekt Hermann Tilke hatte uns dazu erklärt: «Wir haben in Baku die etwas spezielle Aufgabe, dass wir an zwei Passagen auf Kopfsteinpflaster fahren müssten. Das gehört zum historischen Teil der Stadt. Zu meinem persönlichen Bedauern ist das in der Formel 1 nicht erlaubt. Also mussten wir Mittel und Wege finden, diese beiden Stellen abzudecken. Diese temporäre Lösung besteht aus Sand und dann aus einer Asphaltschicht, die anschliessend wieder abgetragen wird. Die Anschlüsse sind dabei durchaus knifflig, wir können dort ja nicht gut Stufen hineinbauen. Wir fahren also auf Kopfsteinpflaster, aber halt eben nicht direkt darauf.»
Was derzeit niemand weiss: Wie gut der Asphalt dort auf die Doppelbelastung aus Hitze (am Renntag soll es 35 Grad im Schatten werden) und Gezerre von den Formel-1-Reifen reagiert.
Sollte der Asphalt aufbrechen, steht die Formel 1 vor einer kniffligen Aufgabe, wie ähnliche Probleme auf anderen Pisten in den letzten Jahren gezeigt haben.