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Norton: Es ist alles noch viel schlimmer

Von Rolf Lüthi
Zuerst ging es nur um 300.000 Pfund Steuerschulden. Mittlerweile zeichnet sich das Ausmass der Norton-Pleite ab. Es geht um Millionen an Steuergeldern und Pensionskassenguthaben, die versickert sind.

Es war nicht etwa Norton selbst oder der als Alleinbesitzer auftretende Stuart Garner, der am 29. Januar 2020 Insolvenz angemeldet hat. Vielmehr wurde das Insolvenzverfahren auf Antrag der Metro Bank eröffnet, Nortons Hausbank.

Doch von Anfang an: Norton wurde 1898 gegründet und ging 1974 in Konkurs, als die britische Motorradindustrie wegen fehlender Innovation und der japanischen Konkurrenz hinweggefegt wurde. Es folgte eine wechselvolle Geschichte mit Kleinserien, Wankelmotoren, dubiosen Finanzgeschäften und häufigen Besitzerwechseln, deren detaillierte Chronologie den Rahmen dieses Artikels bei Weitem sprengen würde.

In den 1990er Jahren entwickelte der Amerikaner Kenny Dreer Motorräder, die er unter dem Markennamen Norton auf den Markt bringen wollte. Prototypen namens Commando 952 und 961 wurden gebaut; dann ging Dreer 2006 das Geld aus.

Zur gleichen Zeit in der Kleinstadt Spondon, England: Die 1969 gegründete Firma Spondon Engineering war als Erbauer von kunstvollen, handwerklich hochwertigen Motorradrahmen etabliert. Spondon gehörte Stuart Tiller und Bob Stevenson zu gleichen Teilen. Stevenson (inzwischen verstorben) wollte sich altershalber zur Ruhe setzen, ein Käufer für seine Anteile wurde gesucht.

Da trat Stuart Garner in der Motorradwelt erstmals in Erscheinung. Der Wildhüter, Feuerwerksimporteur und Investor übernahm Stevensons Anteil an Spondon. Gemäss Tillers Aussage war zunächst ein Preis von 380.000 £ abgemacht, doch im Moment der Vertragsunterzeichnung übertölpelte Garner Stevenson und bekam dessen Anteile für 90.000 £, zahlbar in zwei Raten.

Dann belehnte Garner die Vermögenswerte von Spondon (Grundstück und Werkstatt) bei Tudor Capital Management für 1,2 Mio £. Mit diesem Geld kaufte Garner die Marke Norton, die fahrbaren Prototypen und die Konstruktionspläne von Dreer. Tiller sagt, die Belehnung von Spondon sei hinter seinem Rücken erfolgt, er hätte davon erst 2013 erfahren und durch diese Transaktion sein Vermögen verloren. Das wirft die kritische Frage auf, wie Garner das Vermögen von Spondon ohne die schriftliche Einwilligung von Tiller belehnen konnte.

Tiller bestreitet in einem Interview mit dem englischen Magazin Superbike weiter, dass bei Spondon je Entwicklungsarbeit für Norton gemacht wurde: «Nur am Anfang demontierten wir einmal einen Prototypen aus Amerika. Die Fertigung war schludrig, unter anderem waren zwei verschiedene Kolben eingebaut.»

Tiller weiter: «2013 riet mir mein Anwalt, sofort bei Spondon auszusteigen, was ich auch tat. Es war einer der besten Ratschläge, die ich je bekommen habe.»

Kurz danach wurde das Gebäude geleert, von Spondon existiert nur noch der Name. Inzwischen hat Gavin Goddard, ein langjähriger Mitarbeiter bei Spondon, die Firma GIA Engineering gegründet; er baut Rahmen und Schwingen für Motorräder.

Durch Nebensächlichkeiten wie zwei unterschiedliche Kolben im gleichen Motor liess sich Garner nicht beirren: Es sollten wieder hochwertige Motorräder in England gebaut werden, mit dem traditionsreichen Namen Norton. Investoren liessen sich (auch mit einer versprochenen Kapitalrendite von 10 %) überzeugen, ebenso wurde staatliche Wirtschaftshilfe ausgeschüttet.

Schon 2008 konnten Produktionsgebäude (750 Quadratmeter) nahe der Rennstrecke von Donington bezogen werden, 2010 wurden die ersten Motorräder an Kunden ausgeliefert. 2013 kaufte Norton das mehr als 200 Jahre alte, traditionsreiche Hotel Donington Hall hinzu, in dem Garner einen Gebäudeteil bewohnte. Auf dem weitläufigen 32 Hektar grossen Hotelgelände wurde eine neue Fabrik errichtet.

Die Produktionsfläche von 5000 Quadratmetern wurde kürzlich noch um 1100 Quadratmetern erweitert. In diesem Anbau hätten die Atlas-Modelle mit 650er Zweizylindermotor produziert werden sollen.

Ein Darlehen von knapp 1 Mio £, das Norton 2008 erhalten hat, kam direkt von den Einnahmen eines Steuerbetrugs, für den zwei langjährige Norton-Teilhaber dann 2013 verurteilt wurden. Neben Privatinvestoren stieg 2015 dank staatlicher Bürgschaft die Santander Bank ein.

Im Juli 2015 besuchte George Osborne, damals Schatzkanzler der Regierung von David Cameron, Norton und erklärte: «Es ist Teil unserer langfristigen Wirtschaftpolitik, erfolgreiche britische Marken wie Norton zu unterstützen.» Er sagte 4 Mio £ an Wirtschaftshilfe für die Entwicklung neuer Modelle zu. Als die Banco Santander ausstieg, fand Garner mit der Metro Bank eine neue Hausbank.

Doch das Geld reichte noch immer nicht. Einerseits wurden nur geringe Stückzahlen gebaut, Insider schätzen die Produktion auf 1,5 Motorräder pro Woche. Anderseits gönnte sich Garner einen luxuriösen Lebensstil. Eine weitere Geldquelle musste erschlossen werden.

Pensionskassen namens Dominator und Commando

Mittelweile steht fest, dass Garner in den Jahren 2012 und 2013 drei Pensionskassen aufbaute, sie heissen Dominator 2012, Commando 2012 und Donington MC. Bis Mai 2019 war Garner deren alleiniger Treuhänder. Agent dieser drei Pensionkassen war der wegen Pensionskassenbetrug vorbestrafte Simon Colfer, der, teilweise unter falschem Namen, 228 Leute überredete, sich ihre Pensionskassenguthaben auszahlen zu lassen, um dieses Geld in eine der genannten Kassen zu investieren. Er versprach 25 % Rendite bei einer Fixlaufzeit von fünf Jahren, vergass aber, seine Provision zu erwähnen.

Die Pensionskassen wurden von einer Firma namens T12 Administration geführt. Deren Geschäftsführer, Andrew Meeson und Peter Bradley, wurden in einem anderen Fall 2013 wegen Steuerbetrug verurteilt, sie wollten sich Steuerrückzahlungen für nicht existierende Pensionskassenbeiträge erschwindeln. Von den 5 Mio £ Deliktsumme waren anno 2008 deren 990.000 £ Teil des Startkapitals von Norton.

Die drei Pensionskassen investierten in eine einzige Anlage: Norton-Aktien. Als die fünf Jahre vorbei waren – geschah vorerst nichts. Später kündigte Nortons Empfangsdame, weil sie ihren Job nicht mehr verkraften konnte: Immer wieder kamen Leute zu Norton und forderten, teilweise unter Tränen, ihr Erspartes zurück, von dem sie als Pensionierte hatten leben wollen.

Inzwischen kommt auch die britische Regierung in ein schiefes Licht, weil einzelne Parlamentarier nachhaken und wissen wollen, wie Norton über die Jahre Wirtschaftshilfe (Steuergeld) in Millionenhöhe abkassieren, sich mit staatlichen Bürgschaften Geldmittel beschaffen und so den Eindruck einer seriösen Firma mit vielversprechender Zukunftsperspektive erwecken konnte.

Während der ganzen Jahre spielte der charismatische Garner selbstbewusst die Rolle des erfolgreichen Visionärs. Er führte Norton straff und nach seinen Überzeugungen. «It’s my way or the highway», war seine Devise. Entweder man teilte seine Ansichten und ordnete sich ihm unter, oder man musste gehen. Andere Meinungen oder Einwände störten nur, was in einem Hightech-Unternehmen natürlich nicht funktionieren kann. Die Personal-Fluktuationsrate war denn auch weit überdurchschnittlich.

Inzwischen verwaltet der britische Pensions-Ombudsmann das, was von den drei Pensionskassen übrig ist. 31 Pensionisten, die bis zu 170.000 £ einzahlten, haben Klage eingereicht. Garner muss sich als Treuhänder dieser versickerten und veruntreuten Geldbeträge wahrscheinlich im Mai 2020 vor Gericht verantworten.

Am 22. August 2019 beantragte DHL International UK einen Abwicklungsauftrag gegen Norton, um geschuldetes Geld für Transportdienstleistungen zu erhalten. Bei einem Abwicklungsauftrag (winding up order) nach englischem Recht werden die Bankkonten des beklagten Unternehmens eingefroren, bis die Schuld beglichen ist. In der Folge bezahlte Norton die Schulden in Höhe von 4000 £, und die Metro Bank gab Nortons Konten wieder frei.

Noch im November versuchte Garner, über ein Crowdfunding an frisches Geld (von Motorradenthusiasten) zu kommen, stellte dieses dann aber überraschend ein mit der Begründung, ein einzelner Grossinvestor würde bei Norton einsteigen. In Wahrheit kündigte die Crowdfunding-Plattform ihre Dienste, weil sie wegen Norton nicht ihre einwandfreie Reputation riskieren wollte.

Garner stopfte derweil die Liquiditätslöcher mit Anzahlungen auf noch nicht gefertigte Motorräder. Er zog Motorradkäufern das Geld aus der Tasche mit Versprechungen, Anzahlungen für limitierte Sonderserien und Reservationen für bestimmte Nummern aus diesen Serien. Dieses Geld wurde nicht auf ein Sperrkonto gelegt, sondern im laufenden Betrieb sofort wieder ausgegeben.

Auf Antrag der Metro Bank wurde Norton am 29. Januar 2020 unter Insolvenzverwaltung gestellt. Die spezialisierte Firma BDO Administrators führt jetzt die Geschäfte und den Betrieb weiter. Mittlerweile hat Insolvenzverwalter BDO eine detaillierte Liste der Schulden, Vermögenswerte und Gläubiger erstellt.

Ein Schuldenberg von geschätzten 28 Mio £

Bei den Gläubigern gibt es drei Gruppen: Gesicherte Gläubiger investieren Geld gegen Sicherheiten, in der Regel Grundbesitz und Immobilien. Diese Gläubiger werden als erste bedient. Gemäss BDO ist die Metro Bank der einzige abgesicherte Gläubiger. Norton refinanzierte sich durch eine Umschuldung von der Banco Santander zur Metro Bank im Juni 2019. Die Metro Bank ist zweifacher Gläubiger, einmal über 4,04 Mio £ von Norton Motorcycles UK und dazu 3,07 Mio £ von Donington Hall Estates (Produktionsstätte, Hotel und Grundbesitz), ergibt zusammen 7,11 Mio £.

In nächster Rangfolge kommen die bevorzugten Gläubiger (englisch preferential creditors) zu ihrem Geld. Dazu gehören die Angestellten, die Lohnrückstände bis zu 800 £ pro Person einklagen können. Als Norton unter Konkursverwaltung durch BDO kam, waren es 64 Angestellte. Inzwischen sind es nach Austritten noch 58. Wenn jedem dieser 58 Angestellten 800 £ zustehen, ergibt das 46.400 £.

Somit gehen von Nortons Vermögenswerten an gesicherte und bevorzugte Gläubiger schon mal 7,156.400 £ ab – mehr als sieben Millionen Pfund.

Bleiben die restlichen Gläubiger, die nach einem Firmenkonkurs oftmals leer ausgehen. Im Falle von Norton wären das etwa Forderungen des englischen Staates für Steuern und Zölle, Zulieferer, Subunternehmer und Kunden, die Motorräder angezahlt haben. Gemäss BDO belaufen sich die Forderungen dieser Gruppe auf 6,233 Mio £, wobei BDO einräumt, dass Nortons Buchführung aus jüngster Zeit unvollständig und ungenau sein könnte

Seit BDO die Konkursverwaltung bei Norton übernommen hat, sind ungesicherte Gläubigerforderungen in der Höhe von 7,195.689 £ eingegangen. Davon sind 3,3 Mio £ Forderungen von 466 Kunden, die nicht gelieferte Motorräder bezahlt oder angezahlt haben.

Zählt man alle offenen Forderungen an Norton zusammen, kommt BDO auf 14,352.089 Mio £ oder in Worten: mehr als 14 Millionen Pfund.

Würden nach der Begleichung all dieser Gläubiger noch Geld oder Vermögenswerte übrig bleiben, so ginge dieses an die Investoren. In diesem Fall gehören zu diesen Unglücklichen auch jene 228 Geprellten, die ihre Pensionskassengelder unwissentlich bei Norton investiert haben. Es geht dabei um einen Gesamtbetrag von nochmals 14 Mio £!

Was ist von Norton noch übrig?

An Vermögenswerten hat Norton zwei Bankkonten, eines bei der Santander Bank, eines bei der Metro Bank. Auf dem Konto bei der Santander Bank waren 15.072 £; dieses Geld hat BDO sichergestellt. Bei der Metro Bank liegen 211.000 $ (US-Dollar), welche die Metro Bank als abgesicherter Gläubiger derzeit nicht rausrücken muss und die später mit Metros Guthaben verrechnet werden.

Dann hat Norton auch noch offene Forderungen an 57 Schuldner, die Norton zusammen 860.000 £ schulden. Ob BDO dieses Geld vollständig eintreiben kann, ist derzeit ungewiss.

Als Norton in Konkurs ging, waren in der Manufaktur keine fertiggestellten Motorräder vorhanden, jedoch 69 Motorräder in verschiedenen Stadien des Aufbaus. Mit dabei mehrere Norton V4 SS (Neupreis 44.000 £), von ihren Besitzern für Garantiearbeiten ins Werk gebracht. Stattdessen wurden diese Motorräder ausgeschlachtet, um mit den demontierten Teilen wiederum andere Motorräder fertig zu stellen und auszuliefern. BDO sandte diesen Besitzern Bilder ihrer teildemontierten Maschinen.

Weiter besitzt Norton Motorcycles eine Flotte von Luxusautos, darunter sechs Aston Martin, im Gesamtwert von 800.000 £. Garner soll sich im März 2018 aus der Firmenkasse 160.000 £ geborgt haben, dieses Darlehen ist ausstehend.

Garner hat schon den nächsten Winkelzug auf Lager

Garner sprach am 31. Januar davon, dass er am Boden zerstört sei und er alles verloren hätte wegen einer steigenden Steuerbelastung und der Unsicherheit wegen des Brexit. Er stellt sich als Opfer dar, und er hätte nicht gewusst, dass die Pensionskassengelder nach fünf Jahren zur Rückzahlung fällig gewesen seien.

Und gestern, am 1. April (kein Scherz), zauberte Garner die nächste Überraschung aus dem Hut: Die chinesische Firma Jinlang, die Roller und 125er Motorräder herstellt, will schon Ende 2019 die Rechte am 961er Motor von Norton gekauft haben. Jinlang ist der Meinung, die 961er Motorplattform samt allen Werkzeugen gehöre nicht in die Konkursmasse, weil der Handel vor der Konkurseröffnung bereits abgeschlossen war. Jinlang will mit einem Designpartner in Italien Motorräder mit diesem Motor entwickeln und diese weltweit vertreiben. Wie viel Jinlang für den 961er Motor bezahlt hat und wohin dieses Geld geflossen (verschwunden) ist, ist derzeit nicht bekannt.

Kommt Garner wieder mal davon?

5000 Norton-Bikes will Garner seit 2008 gebaut und verkauft haben. Im Hauptmarkt England sind aber nur 802 Nortons der fraglichen Jahrgänge immatrikuliert. Selbst wenn einige Motorräder ohne Nummernschild in Sammlungen stehen und weitere exportiert wurden, kann Garners Zahl nie und nimmer stimmen. 2020 wurden wohl gar keine Motorräder produziert, weil sich bei den Zulieferern so hohe Rückstände angehäuft hatten, dass diese benötigte Komponenten nicht mehr lieferten.

«Bei einer wöchentlichen Produktion von etwa 1,5 Motorrädern kann man für eine Infrastruktur, wie Norton sie betreibt, nicht mal die Stromrechnung bezahlen», ätzt ein Insider.

Ein Gerichtsverfahren dürfte sich über Monate, wenn nicht über Jahre hinziehen. Garner hat ein Konglomerat von Firmen aufgebaut, die sich gegenseitig Dienstleistungen und Mieten verrechnen. Teilweise ist Garners Frau Susannah als Besitzerin aufgeführt. Diese Firmen und Adressen sind über ganz England verstreut, weitere befinden sich auf der Isle of Man, auf den Cayman Islands und in den USA.

«Im schlimmsten Fall verbüsst Garner ein paar Jahre im offenen Strafvollzug und geniesst dann den Rest seines Lebens sorgenfrei im Luxus, finanziert aus einem versteckten Vermögen», schnaubt ein Geschädigter.

Die Wechselkurse vom Pfund zum Euro änderten sich über die Jahre stark, die Beträge sind also nicht 1 zu 1 vergleichbar:

2006: 1 Pfund = ca. 1,45 Euro
2008 ca. 1,10 Euro
2015 ca. 1,40 Euro
dezeit ca. 1,15 Euro

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