Fahrverbote wegen Motorradlärm: Die Blase platzt
Jahrelang wurden die Motorräder lauter, dabei hätten sie leiser werden müssen - nun platzt die Wohlfühlblase der Motorradszene
Im Jahr 1998 wurde die europaweite Abgas- und Lärmnorm Euro 1 eingeführt und von der Schweiz übernommen. Seither nahm die Bevölkerung Österreichs um eine Million Einwohner zu, von 7,9 auf 8,9 Millionen. Im gleichen Zeitraum wuchs die Bevölkerung Deutschlands von 81,4 auf 83 Millionen, in der Schweiz lebten damals 7,1 Millionen Menschen, heute 8,6 Millionen.
Gleichzeitig stieg der Motorradbestand in Österreich von 238.000 auf 550.000, in Deutschland von 2,9 auf 4,5 Millionen, in der Schweiz von 435.000 auf 745.000. Die Anzahl der Motorräder hat sich in den drei Ländern also nahezu verdoppelt.
In den deutschsprachigen Ländern leben seit Einführung von Euro 1 etwa vier Millionen Menschen mehr, gleichzeitig gibt es 2,2 Millionen Motorräder mehr. Da leuchtet ein, was hätte passieren sollen: Die Motorräder hätten leiser werden müssen. Subjektiv habe ich in der Fahrpraxis das Gegenteil erlebt.
Das konnte nicht ewig gut gehen, und wir Motorrad-Enthusiasten hätten das erkennen müssen. Als ich einmal ein sportliches Testmotorrad für einen kombinierten Test auf Strasse und Rennstrecke beim Importeur abholte, drehte ich nach einigen Kilometern um. Ich glaubte wegen der imposanten Geräuschkulisse, entgegen der vorgängigen Abmachung mit der offenen Racing-Aufpuffanlage unterwegs zu sein. Es war jedoch wie abgemacht der legale Strassenauspuff montiert.
Jahrelang galt auf der Rennstrecke von Anneau du Rhin im Elsass ein Lärmgrenzwert von 100 dB bei 60 Prozent der Maximaldrehzahl. Bis dieser Passus geändert wurde: Man durfte wie zuvor bis 100 dB oder mit dem Serienauspuff fahren. Grund für diese Ergänzung: Einzelne Strassenmotorräder waren bei dieser Standmessung mit strassenlegalem, serienmässigem Auspuff lauter als 100 dB, mithin also lauter als Sportmotorräder mit Racing-Auspuffanlagen.
Die Motorradszene lebte in einer Blase. Man fühlte sich sicher, nutzte Schlupflöcher in Verordnungen und Gesetzen, erfand dazu technische Tricksereien. Es hat nun keinen Sinn, irgendwelche Schuldigen zu denunzieren, einzelne Fahrergruppen oder Marken zu verunglimpfen. Es nützt auch nichts, über zu laute Autos herzuziehen, auf Laubbläser und Rasenmäher zu verweisen oder über Fahrradfahrer zu schimpfen, die sich nicht an alle Verkehrsregeln halten. Wir, die Motorradfahrer, sind übers Ganze gesehen die lautesten und damit auffälligsten Verkehrsteilnehmer auf den Land- und Bergstrassen.
Nicht einzelne böse Buben (oder Frauen), die ihre Auspuffe ausräumen, sind das Problem. Die können von der Polizei aus dem Verkehr gezogen werden. Das Problem ist, dass auffällig bis nervig laute Motorräder strassenlegal und gesetzeskonform sind.
Nicht genug damit: In den letzten Jahren kam noch der Quickshifter hinzu. Auf der Rennstrecke verbessert sich damit die Rundenzeit um eine halbe bis eine ganze Sekunde. Das macht absolut Sinn, auch wenn damit das Getriebe härter beansprucht wird. Auf der Strasse ist das Quatsch, aber Privatsache – wenn die Elektronik nicht so eingestellt wäre, dass bei jedem Schaltvorgang noch eine gezielt herbeigeführte Fehlzündung die Restwelt in Echtzeit informieren würde, dass ein anderer Gang eingelegt wurde.
Gestiegene Besiedelungsdichte, erhöhter Motorradbestand, im Fahrbetrieb lautere statt leisere Motorräder, als Zugabe legale bis illegale Lärmtricksereien und knallende Quickshifter. Als Resultat forderte kürzlich der deutsche Bundesrat ohne weitere Präzisierung ein Geräuschlimit von 80 dB für alle Motorräder, was natürlich völliger Unsinn ist. Jedes Motorrad ist wahlweise leiser oder lauter.
Damit ein Grenzwert Sinn macht, muss die anzuwendende Messmethode definiert sein. Sowieso ist seit 2016 der Schallpegel in der nach Euro 4 definierter Messprozedur auf 73 bis 77 dB beschränkt.
Noch unüberlegter wirken idie Fahrverbote im Land Tirol, wo ein wenig aussagekräftiger Referenzwert zum entscheidenden Grenzwert erklärt wurde: 95 dB, gemessen im Stand und meist bei halber Nenndrehzahl, sind in keinem Gesetz als Grenzwert festgelegt. Da wurden wohl Corona-bedingte Abwesenheiten von Fachleuten ausgenutzt, um in einem unreflektierten Schnellschuss Fahrverbote für Motorräder durchzudrücken.
Diese beiden Beispiele zeigen den üblichen Aktivismus von Politikern und Chefbeamten. Dabei wird es jedoch nicht bleiben. Die Motorradszene, die sich in ihrer Wohlfühlboase geborgen glaubte, ist wegen ihrer Geräuschkulisse in den Fokus des öffentlichen Interesses geraten.
Die Motorradindustrie muss ohne Tricksereien leisere Motorräder bauen, die Fahrspass bereiten. Das ist technisch möglich. Der einschlägige Handel muss auf den Vertrieb von Brülltüten und dergleichen verzichten, was im Zeitalter des Internets schwierig wird. Die Einführung des Quickshifters selbst an touristischen Strassenmotorrädern ist unumkehrbar; begleitende Fehlzündungen und unnützes Gebrabbel bei geschlossenem Gasgriff ist an modernen Maschinen völliger Blödsinn.
Für das Jahr 2016 wurde Euro 4 eingeführt, was in der Praxis ohne nennenswerte Wirkung auf die Lärmemissionen blieb. Der Grundsatz des Bestandsschutzes stellt in diesem Zusammenhang sicher, dass ein einmal zugelassenes Motorrad bis ans Ende seiner Lebensdauer benutzt werden kann. Eine Nachrüstpflicht, etwa auf strengere Abgas- oder Lärmbestimmungen, besteht ausdrücklich nicht und wäre technisch auch problematisch.
Trotzdem: Kriegt es die Motorradszene (trotz Bestandsschutz) nicht innerhalb nützlicher Frist selber hin, ihre akustischen Lebensäusserungen zu senken, könnten die grün-roten Umweltpopulisten die Themenführerschaft übernehmen. Ein Personenkreis mit bewusst kultiviertem Desinteresse für Mechanik und Technik.
Grundsätze wie Bestandsschutz, freie Wahl der Verkehrsmittel, Reisefreiheit und Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer kümmern diese Ideologen nicht.