Speed-up disqualifiziert: Was sagen die Experten?
Auf der Facebook-Seite von SPEEDWEEK.com bezeichnete sogar Superbike-Guru Charly Putz die Disqualifikation von Speed-Up-Fahrer Fabio Quartararo «als Schwachsinn». Das sei eine Schande für MotoGP, ein Witz, eine Farce, lächerlich, erhitzten sich die Gemüter, denn der Reifendruck sei keine feste Größe, es könne während der Fahrt Luft entweichen oder das Ventil undicht werden.
Andere Experten versicherten, der Reifendruck sei sehr wohl eine feste Größe.
Fakt ist: Der Reifendruck ist ein entscheidender Faktor bei der Reifen-Performance. Als Michelin 2016 als Alleinausrüster in die MotoGP zurückkehrte, platzte bei Loris Baz beim Sepang-Test im Februar der Hinterreifen bei mehr als 290 km/h. Beim Argentinien-GP 2016 löste sich bei Redding hinten die Lauffläche ab.
Jedes Mal äußerte Michelin den Verdacht, die Privatteams hätten den empfohlenen Reifendruck von 1,5 bar unterschritten.
In Sepang 2016 erklärte der damalige Michelin-Rennchef Nicolas Goubert, das Avintia-Ducati-Team von Loris Baz habe einen Reifen zum Service zurückgebracht, bei dem ein Luftdruck von 1,45 bar gemessen wurde. Damals wurde bezweifelt, dass sich ein Reifen wegen 0,05 bar weniger Luftdruck in seine Bestandteile auflösen kann.
Tatsächlich entwickelte Michelin nachher hastig eine hitzebeständigere neue Karkasse für den folgenden Texas-GP. Ausserdem wurden danach Druck-Sensoren zur Überwachung vorgeschrieben.
Goubert betonte, ein um 0,05 bar zu geringer Reifendruck könne einen großen Unterschied bewirken. «Wenn wir ein Limit setzen, dann muss das beachtet werden. Das ist immer so», stellte der Franzose im Gespräch mit SPEEDWEEK.com klar. «Irgendwo musst du so einen Grenzwert setzen.»
Und da spielt es keine Rolle, ob es sich um den maximalen Hubraum, den Reifendruck, unerlaubte Ölzusätze oder das Mindestgewicht handelt.
Wer gegen Vorschriften verstößt, für den gibt es kein Erbarmen.
Formel-1-Pilot Niki Lauda hat 1982 beim Zolder-GP den dritten Platz wegen 0,5 kg Untergewicht verloren…
Wir haben den Experten Peter «Pit» Baumgartner um seine Meinung gefragt, der 2008 bis Ende 2015 als Bridgestone-Reifeningenieur in der Box des Yamaha-Werksteams mit Stars wie Rossi und Lorenzo für die Reifen zuständig war.
Warum gehen die Teams beim Reifendruck so gerne unter das Limit? «Im Prinzip hat jeder Reifen von einem Hersteller wie Michelin, Dunlop oder Bridgestone seinen eigenen Charakter. Bei Michelin sind alle Motorrad-Reifen relativ weich, dann kommt Dunlop und nachher Bridgestone. Dunlop ist aber auch relativ vom Aufbau und von der Flanke her. Wenn die Jungs beim Luftdruck runtergehen, dass sehe ich bei Track Days oder in der EWC, verschafft dir das etwas mehr Eigendämpfung. Das heißt: Du hast mehr Gefühl, wenn du beim Luftdruck runtergehst. Das ist ein Effekt, den die Fahrer gerne verlangen, aber keiner denkt über die Konsequenzen nach, wenn kein Reifentechniker da ist. Wenn du zum Beispiel bei einem Dunlop und bei einem Bridgestone beim Luftdruck zu weit runtergehst, hast du zwar einen riesigen ‘contact patch’, also eine große Auflagefläche, aber weil die Flanke des Reifens steif ist, hast du im Zentrum dieses riesigen ‚contact patches’ keinen richtigen Anpressdruck, um die Kraft, den Drive und den Vorschub zu bekommen, damit der Reifen über viele Runden hinweg konstant bleibt. Das Absenken des Luftdrucks ist deshalb kompletter Schwachsinn. Das ist vielleicht für den Fahrer für zwei Runden eine mentale Hilfe, aber die Reifen von Dunlop und Bridgestone mögen das nicht.»
Pit Baumgartner zieht oft ein Foto aus der Tasche, um den Motorradfahrern die Situation zu veranschaulichen. «Das ist ein Gimmick, also im Prinzip die Darstellung von einem ‚contact patch’ von einem Vorderreifen in 50 Grad Schräglage. Bei einem Hinterrad sieht es ähnlich aus. Wo mehr Druck ist, ist auf dem Foto die Farbe dunkler. Wenn du mit dem Luftdruck weit runtergehst, hast du – wie gesagt – einen gewaltigen 'contact patch'. Du bildest dir ein, du hast jetzt eine Mörder-Auflagefläche, die dir einen extremen Vorschub gewährleistet. Aber du hast im Zentrum von diesem Patch keinen Druck, außerdem reißt der Reifen eher auf und fängt an zu ‚grainen’ oder zu körnen. Außerdem hast du den Traktions- und Drive-Modus nicht, der so wichtig ist.»
Pit Baumgartner hält die strikte Einhaltung des Reifendruck-Limits für nötig und sinnvoll. «Es ist richtig, dass Dunlop auf die Teams einwirkt und ein Limit von 1,4 bar fordert. In diesem Bereich ist es nicht gefährlich. Aber wenn die Fahrer mal mit einem Druck unter 1 bar anfangen oder mit 0,9 fahren, kann es kritisch werden.»
«Wir haben bei Bridgestone in der MotoGP eine Empfehlung von 1,5 bar gehabt. Wir wollten, dass kein Team mit weniger als 1,5 bar losfährt», sagt Baumgartner.
Jürgen Lingg, Teamprinzipal und Technical Director von Dynavolt Intact GP mit den Piloten Schrötter und Vierge, kennt die Moto2-Reifenproblematik mit dem zu geringen Luftdruck. «Man hat natürlich mehr Auflagefläche dadurch, also mehr ‚contact patch’. Die Gefahr ist halt hoch, dadurch den Reifen zu überhitzen. Wenn eine Undichtigkeit da gewesen wäre, hätte man das ja nachweisen können, aufgrund des Druckverlustes. Der Startdruck ist ja entscheidend, und den haben die Kommissare sicher kontrolliert. Es wird ja außerdem alles im 2d-Data Recording-System aufgezeichnet. Auch die Druck-Sensoren im Hinterreifen sind vorgeschrieben und einheitlich.»
Das Intact-Team rückte mit beiden Fahrern durch die Disqualifikation um einen Platz nach vorne. Marcel Schrötter zum Beispiel von P11 auf P10. Trotzdem bedauert Jürgen Lingg diesen Vorfall: «Mir tut das echt leid. Denn Fabio ist ein super Rennen gefahren. Er hätte auch mit dem legalen Reifendruck gewonnen.»