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Marc Márquez: Analyse eines genialen Grenzgängers

Kolumne von Günther Wiesinger
Silverstone, Aragón, Phillip Island: Marc Márquez ist in fünf Rennen zuletzt dreimal straffällig geworden. Bei seinem Talent hätte er das gar nicht nötig.

Ich verstehe ja, wenn die eingefleischten Marc-Márquez-Anhänger wegen meiner kritischen Berichterstattung über den spanischen MotoGP-WM-Leader erzürnt sind. Wahre Fans gehen für ihre Helden durch dick und dünn.

Ich gebe zu, ich bin kein Marc-Márquez-Fan. Ich betrachte mich auch nicht als Rossi-Fan.

Genau so wenig wie ich einst ein Agostini-, Sheene-, Roberts-, Spencer-, Rainey-, Lawson, Gardner-, Schwantz-, Mang- oder sonstiger Fan war.

Aber ich habe über jene Fahrer, die in einer gewissen Ära der Weltmeisterschaft ihren Stempel aufgedrückt haben, ein bisschen mehr geschrieben als über andere, die unscheinbar waren und hinterher gefahren sind.

Rossi hatte in seiner ersten Yamaha-Ära einen Status erreicht, da wurde bei einem zweiten oder dritten Rang über die Gründe seiner Niederlage gerätselt. Der Sieger ging manchmal unter. So einen Status muss man sich erst einmal erarbeiten.

Ich bin also kein Fan irgendeines Rennfahrers. Aber die zugänglichen Typen, die auch mal einen guten Spruch machen, sind mir halt lieber als die Darryl Beatties dieser Welt. Persönlichkeiten halt, Rennfahrer mit Charisma. Wie einst Barry Sheene. Dem war ein guter Spruch lieber als so manches Überholmanöver. Dem alten «King Kenny» Roberts auch.

Freundschaften mit Akteuren haben sich trotzdem manchmal ergeben. Mit Gregg Hansford, mit King Kenny, mit Reinhold Roth, mit Harald Eckl und anderen, zum Beispiel mit Chris Vermeulen und Karl Muggeridge.

Hat sich das auf die Berichterstattung spürbar ausgewirkt? Nein. Im Gegenteil. Denn oft habe ich mit diesen Piloten mehr über Gott und die Welt geplaudert als übers Rennfahren.

Das Naheverhältnis zu den Stars

Natürlich entsteht zu gewissen Fahrern ein Naheverhältnis, wenn man schon die Karriere des Vaters aufmerksam begleitet hat und sich jahrelang in den entlegensten Ecken des Erdballs trifft. Das ist bei Rossi so gewesen, kam bei «Little Kenny» Roberts zum Vorschein, ist auch bei bei Bradl und Öttl der Fall. Aber auch mit Herweh, Wimmer (bis er MZ-Chef wurde), Raudies, Waldmann und Eskil Suter entstand über die Jahre eine Kameradschaft, die über das Berufliche hinausgeht.

Aber es ging nie so weit, dass ich mit einem Rennfahrer den Urlaub verbringen hätte wollen.

Ja, Valentino Rossi, er geniesst viel Aufmerksamkeit, er mobilisiert die Massen, die Fans jubeln und leiden mit ihm, er hat wenige Feinde, seine Erfolge muss man neidlos anerkennen: 106 GP-Siege. Neun WM-Titel.

Rossi kurbelte früher den Heftverkauf an, er sorgt jetzt bei SPEEDWEEK. com für Reichweite. Genau so wie Márquez. Wie Lorenzo, wie Pedrosa, wie Bradl und Co. Rossi ist ein Glücksfall für die MotoGP-Klasse.

Valentino ist ein ausgezeichneter Motorradfahrer – und dazu ein geborener Entertainer. Er ist schlagfertig, er plappert drauflos, er macht aus seinem Herz keine Mördergrube, er trägt sein Herz auf der Zunge. Er spielt meisterhaft auf dem Medienklavier. Erinnern wir uns an seine Streiche nach den Siegen der frühen Jahre.

Lorenzo hat sie kopiert. Er ahmt auch den Siegerehrungs-Jump von Schumacher nach. Das wirkt verkrampft. Aber Lorenzo ist ein grossartiger Rennfahrer, konstant, zäh, zielstrebig, bewundernswert, bemüht, lernfähig. Aber die Massen mobilisiert er nicht – wie Vettel. Jorge ist bei Yamaha der Mann für die Resultate, Rossi der Mann für die Aufmerksamkeit.

Aber Lorenzo tut sein Bestes. Im Australien-Quali hat er den Vogel abgeschossen – und sich mit fremden Federn geschmückt.

Márquez kann ein ganz Grosser werden

Marc Márquez hingegen hat alle Fähigkeiten, der nächste Rossi zu werden. Das kann keiner bestreiten, der bis fünf zählen kann.

Er fährt im besten Team, er verfügt über das beste Motorrad, sein Talent ist von unbeschreiblicher Dimension, fast drei WM-Titel mit 20 Jahren – das ist noch nie da gewesen. Er stand bei 53 von 94 Grand Prix auf dem Podest, er hat bereits 32 WM-Rennen gewonnen und alle Rekorde gebrochen: jüngster MotoGP-Sieger, jüngster Pole-Position-Inhaber, jüngster WM-Leader, Jüngster in allen Lebenslagen.

Dazu gut aussehend, höflich, pünktlich, redegewandt, unbeschwert, unbekümmert. Nie missmutig. Marc lacht und amüsiert sich sogar, wenn er von der 56-prozentigen Einkommenssteuer in Spanien erzählt.

Aber in der MotoGP-Klasse beginnt der Ernst des Lebens. 1000 ccm, 160 kg, 260 PS, 340 km/h Top-Speed. Das sind keine Spielzeuge. Man sollte hier ein bisschen Respekt haben – vor den Gegnern, vor den Fahrzeugen.

Márquez bewegt seine Honda RC213V meisterhaft, spielerisch, immer am Limit – und manchmal ein bisschen jenseits.

Darf man das als Journalist nicht mehr erwähnen und anprangern?

Márquez wird in Spanien angehimmelt. Früher war das Lager in Lorenzo- und Pedrosa-Fans gespalten, Márquez hat alle spanischen Fans hinter sich, fast alle Journalisten liegen ihm zu Füssen. Auch das Honda-Management. Schwierig, in so einer Situation als 20-Jähriger die Bodenhaftung nicht zu verlieren.

Bei einem Fussballmatch wird jeder Spieler nach einem Foul an den Pranger gestellt: Verwarnung, gelbe Karte, rote Karte, Ausschluss. Alles live im Fernsehen. Und vor 70.000 Zuschauern im Stadion.

Darf man im Motorradsport nur über die Siege reden?

Halten wir uns an die Tatsachen.
1. September 2013: Marc Márquez hat im Warm-Up von Silverstone bei gelber Flagge das Tempo nicht reduziert, er ist gestürzt, an derselben Stelle wie Crutchlow, die Streckenposten bergen gerade die M1-Yamaha des Briten aus dem Kiesbett, die Honda von Márquez hätte sie beinahe erschlagen. Zwei Strafpunkte.
29. September 2013: Marc Márquez fährt in Runde 6 beim Aragón-GP seinem Teamkollegen Pedrosa hinten rechts gegen die Schwinge, er demoliert das Kabel für die Traction Control, Dani stürzt deswegen schwer, sein WM-Titel ist futsch. Ein Strafpunkt.
20. Oktober 2013: Marc Márquez verpasst auf Phillip Island das Zeitfenster für den Zwangs-Boxenstopp nach Rennrunde 9 oder 10, er fährt erst nach Runde 11 zum Motorradwechsel.

Bridgestone hat die Hinterreifen nach den Trainings aufgeschnitten, die Temperaturen genau analysiert und dann betont: Wir gewährleisten die Laufzeit nur für maximal zehn Runden.

Die Teams von Pedrosa, Lorenzo, Rossi und Co. wissen: Wer nach der zehnten Runde reinkommt, bekommt die schwarze Flagge. Im Umfeld des WM-Leaders hat sich niemand um diese Situation gekümmert, kein Nakamoto, kein Suppo, kein Alzamora. Als Márquez – wie vereinbart – die schwarze Flagge kriegt, fällt HRC-Vizepräsident Nakamoto aus allen Wolken. Das Wort «Bullshit» entweicht seinen Lippen.

Und beim Rausfahren nach dem verspäteten Motorradwechsel würdigt Márquez die mit 340 km/h heranbrausende Spitzengruppe mit Lorenzo und Pedrosa keines Blickes. Er reiht sich in die erste Rechtskurve ein, als sei er allein auf der Welt.

Ja, Lorenzo hat sich verbremst. Er war 5 oder 10 Meter neben der Ideallinie. Aber solche Vorfälle gehören zum rennsportlichen Alltag. Sie sind nichts Unanständiges, vor allem nicht in der ersten fliegenden Runde mit kalten Karbonbremsen und neuen Reifen.

Drei grimmige Vorfälle in fünf Wochen

Ich frage mich: Wo bleibt bei Márquez der natürliche Selbsterhaltungstrieb? Es hätte ja auch ein 5-Fahrer-Pulk angestürmt kommen können...

Im BBC-Interview tat der WM-Leader die 200-km/h-Kollision mit «ein Fall ohne Bedeutung» ab.

Drei grimmige Vorfälle in sieben Wochen. Und es ist zu befürchten: Jetzt geht es erst richtig los.

«Ich ändere meine Strategie und Fahrweise nicht», betont Márquez bei jeder Gelegenheit.

Als ihm Lorenzo in Malaysia alle Fehler von 2103 auf den Kopf warf, entgegnete der Honda-Star lachend: «Ein guter Witz.»

Doch Lorenzo war aber nicht mehr zum Spassen zumute.

Glauben Sie mir: Ob Márquez, Lorenzo oder Pedrosa den Titel gewinnt, berührt mich nicht im Geringsten.

Hauptsache, die WM bleibt spannend. Ich verabscheue Titelentscheidungen vier Rennen vor Schluss. Das fällt unter Geschäftsstörung.

Márquez soll meinetwegen zehn Titel hintereinander gewinnen.

Aber mir steckt die gespenstische Stille von Sepang 2011 noch in den Knochen, als Marco Simoncelli von uns gegangen war.

Die MotoGP-WM ist ohne Harakiri-Manöver gefährlich genug. Wir brauchen keine tickenden Zeitbomben.

Bei den letzten fünf Rennen hat Márquez einmal zwei Strafpunkte kassiert, einmal einen, zuletzt die schwarze Flagge.

Vielleicht wäre es für die obersten Honda-Manager an der Zeit, ihm mal ins Gewissen zu reden.

Wenn Marc Márquez ein grosser Champion werden will, muss er geduldiger und nervenstärker werden. Einen WM-Titel hat er wegen dieser Schwächen 2011 schon verloren. Er muss diese gefährlichen Mätzchen abstellen; ein Fahrer seines Kalibers hat sie gar nicht nötig.

Lorenzo und Pedrosa sind gestandene Rennfahrer. Ihre Teams können bis zehn zählen; bei manchen Rennen ein unüberschätzbarer Vorteil. Sie haben die Ruhe weg – und werden jede Blösse des Gegners ausnützen.

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