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Michelin-Reifenplatzer: War Leichtsinn im Spiel?

Von Günther Wiesinger
Manche MotoGP-Techniker wunderten sich schon 2015, wie sehr die Michelin-Spezialisten die Kontrolle des Reifendrucks vernachlässigten. Jetzt muss wohl ein hitzebeständigerer Hinterreifen gebaut werden.

Der Reifenplatzer an der Avintia Ducati von Loris Baz um 10.41 Uhr am Dienstag, 2. Februar in Sepang/Malaysia beschäftigt die MotoGP-Gemeinschaft.

Kann es wirklich sein, dass das Avintia-Team den Reifenplatzer verursacht oder heraufbeschworen hat, weil das Team mit 0,05 zu wenig Reifendruck am Hinterrad gefahren ist und den empfohlenen Reifendruck von 1,5 bar unterschritten hat, um dem Fahrer mehr Grip am Hinterrad zu vermitteln?

Diese Vermutung von Michelin-Technik-Direktor Nicolas Goubert und seines Projekt-Managers Piero Taramasso wird nicht nur von vielen Fans und Beobachtern bezweifelt, sondern auch von echten Experten für Rennreifen.

Als «Riesenschwachsinn» bezeichnet ein renommierter MotoGP-Reifentechniker diese Behauptung von Michelin. Wegen 0,05 weniger Luftdruck passiere so eine Katastrophe nicht, sind sich die Fachleute einig.

Tatsache ist, dass zum Beispiel die Bridgestone-Reifentechniker von Beginn an deutlich mehr Wert auf die Kontrolle des Reifendrucks legten als die Spezialisten von Michelin. «Die Kontrolle des Luftdrucks war bei Bridgestone immer extrem wichtig», schildert ein erfahrener MotoGP-Crew-Chief.

Den Boxencrews von Repsol-Honda und Movistar-Yamaha fiel letztes Jahr bei etlichen Probefahrten mit Michelin deutlich auf, dass sich von den Franzosen niemand wirklich darum kümmerte, ob der Reifendruck akkurat eingestellt war. Es machte sich Verwunderung breit.

Denn bei Bridgestone wurde der Reifendruck in den MotoGP-Trainings bei jedem Stopp sorgfältig kontrolliert und aufgeschrieben.
Es wurde Bilanz darüber geführt, wie hoch der Reifendruck im Fahrbetrieb in die Höhe kletterte, bei jedem Team und jedem Fahrer.

Als Michelin vor einem Jahr in Malaysia zum ersten Mal testete, fiel den Teamtechnikern auf, dass Michelin dieses Thema stark vernachlässigte. «Die legen auf die Kontrolle des Reifendrucks keinen Wert», war zu hören.

Der Luftdruck wurde in der Früh bei kalten Reifen gemessen, dann fuhren die Testfahrer los.

Die alten Hasen in den Technikcrews der Teams hielten das schon damals für ein Sicherheitsrisiko. Denn üblicherweise sollte der Druck erst gemessen werden, wenn die Reifenwärmer nach einer Stunde von den Reifen entfernt wurden. Dann wurde der so genannte «Warmluftdruck» gemessen, Bridgestone liess die Piloten immer mit einem Warmluftdruck von 1,5 bar losfahren. Auf Strecken wie Mugello, Sachsenring und Sepang ging der Luftdruck dann beim Fahren hoch auf 1,7 oder 1,8 bar, bei Honda wurde mitunter sogar ein Fahrluftdruck von 1,9 bar angezeigt.

Die Michelin-Datenblätter offenbarten schon in der Saison 2015, dass mit etwas weniger Luft gefahren wurde als bei Bridgestone, verraten die Teams.

Ausserdem gilt der Unterbau der Michelin-Reifen schon seit Jahren als verhältnismässig weich im Vergleich zu Bridgestone. Basierend auf dem weicheren Unterbau verwendet Michelin dann einen etwas härteren Gummi.

Die Bridgestone-Strategie in der MotoGP-Klasse sah anders aus: Die Japaner setzten auf einen härteren Unterbau, dafür von der Tendenz her auf etwas weichere Gummimischungen.

Der Vorteil des weicheren Unterbaus: Auf Strecken mit hohen Temperaturen wie in Malaysia erzielt ein Reifenhersteller auf diese Weise einen grösseren «contact patch», eine grössere Auflagefläche.

Das kann sich vorteilhaft auswirken, aber bei der Abstimmung kommt es üblicherweise mit dem weichen Unterbau zu Schwierigkeiten, das Motorrad in Balance zu halten.

Gratwanderung: Viel Grip, trotzdem hitzebeständig

Die Anforderungen für einen MotoGP-Reifenhersteller sind gewaltig. Bis zu 270 PS, 1000 ccm, 157 kg, Geschwindigkeiten bis 340 km/h – das sind nur einige Parameter der MotoGP-Maschinen, die berücksichtigt werden müssen.

Die Reifen müssen also hitzebeständig sein, die Fahrer wünschen sich aber trotzdem perfekten Grip in allen Lebenslagen.

Eine Wanderung auf einem schmalen Grat für alle Reifenerzeuger.

Bridgestone hatte ja auch seine Erlebnisse. 2004 zerplatzte bei Kawasaki-Werksfahrer Nakano in Mugello ein Hinterreifen, bei Tamada (Honda) in Sepang.

Auch neun Jahre später erlebte Bridgestone in Phillip Island ein Desaster, als wegen des neuen, aggressiven Asphalts die Hinterreifen maximal zehn Runden durchhielten.

Danach konstruierte Bridgestone für die Saison 2014 wesentlich härtere, hitzebeständigere Reifen.

Trotz dieser leidvollen Bridgestone-Erfahrungen brachte Michelin letztes Jahr für Colin Edwards keine besonders widerstandsfähigen Reifen zum Phillip-Island-Test. Tatsächlich kam es dann zu «junk out»-Vorkommnissen, also zum Davonfliegen von Teilen der Lauffläche. Durch den extremen Grip und die erhöhte Belastung auf den Hinterreifen ist die australische Rennstrecke eine besondere Bewährungsprobe für die Reifen. 2013 lösten sich sogar die Moto2-Reifen in Phillip Island in Ihre Bestandteile auf, weshalb das Rennen um fast die Hälfte verkürzt wurde.

Es kommt auf der Piste in Australien zu einer Spannung im Reifenkern, den die Experten als «friction» bezeichnen. Wenn weniger Luftdruck verwendet wird, wird dieser «friction»-Effekt noch grösser.

Bis zum Reifenplatzer von Sepang sickerten 2015 oder 2016 nie ernsthafte Sicherheitsprobleme von Michelin in der MotoGP-Klasse durch, weil die meisten Tests unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Aber im August 2015 wurde sogar von Auflösungserscheinungen bei einem Hinterreifen von Ducati-Testfahrer Michele Pirro bei Tests in Misano (bei grosser Hitze) erzählt. Cal Crutchlow erwähnte diese Neuigkeit gegenüber den Medien und musste sich dann bei Michelin entschuldigen.

Jetzt vermuten die Fachleute, Michelin könnte durch den weichen Unterbau und den «friction»-Index noch öfter Sorgen bekommen. Denn die Hinterreifen werden zwischen Konstruktion und Gummiauflage zu stark gestresst und belastet.

Die MotoGP-Fahrer berichten einhellig von einem sehr hohen Gripniveau des Michelin-Hinterreifens. Der Reifen hält auch konstant durch, weil er durch den weichen Unterbau einen tadellosen «contact patch» vermittelt. Aber dieses hohe Gripniveau geht offenbar auf Kosten der Sicherheit.

Ob Michelin den weichen A-Compound, der nach dem Baz-Crash in Sepang aus dem Verkehr gezogen wurde, beim nächsten MotoGP-Test in Phillip Island (19. bis 22. Februar) wieder einsetzt, ist fraglich.

Die MotoGP-Teams vermuten, dass in Clermont Ferrand nach dem Bridgestone-Vorbild jetzt an einem spürbar härteren Compound für die A-Mischung gearbeitet wird, um den internen Stress im Reifeninneren zu verringern.

Ausserdem wird Michelin nichts anders übrig bleiben, als die Luftdruck-Strategie zu ändern und konsequenter auf den Warmluftdruck der Reifen zu achten.

Bridgestone verstärkte «casing» für die 1000-ccm-Bikes

Bridgestone verwendete 2002, 2003 und zu Beginn der Saison 2004 einen anderen Unterbau als später nach den Crashs von Nakano und Tamada im Jahr 2004. Nach dem Mugello-Desaster im GP-Training 2004 entwickelten die Japaner eine neue Konstruktion für die Hinterreifen, der mehr Sicherheit gewährleistete.

Michelin hat den Vorderreifen zwischen den November-Tests und Sepang 2016 deutlich verbessert. Deshalb sollte es den Franzosen auch gelingen, den A-Compound-Hinterreifen bis zum Saisonstart in Katar am 20. März widerstandsfähiger zu gestalten.

Bridgestone sammelte 2012, 2013, 2014 und 2015 mit den neuen 1000-ccm-MotoGP-Raketen wertvolle Erfahrungen. Das «casing» wurde verstärkt, es wurde nach dem Australien-GP 2013 intern sogar «heat casing» genannt. Dieser verstärkte Unterbau wurde nötig, um auch in Zukunft auf der Lauffläche mit weicheren Gummimischungen fahren zu können.

Ein Rennreifen besteht aus einer Karkasse, dann wird zwischen der Karkasse und der Auflagefläche noch eine hitzebeständige Gummischicht (quasi als Schutzschild) eingebaut. Die oberste Gummischicht wird auf die ersten beiden Schichten drauf vulkanisiert.

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