History: Grand-Prix-Sieger, die nie in Führung lagen
In loser Reihenfolge gehen wir in Form von «SPEEDWEEKipedia» auf Fragen unserer Leser ein. Dieses Mal will Irene Keller aus Böblingen wissen: «Gibt es eigentlich Fahrer, die einen Grand Prix gewonnen haben, obschon sie im gleichen Rennen nie geführt haben? Und wenn wir schon beim Thema sind – wieviele Piloten haben als Erste die Ziellinie überquert, das entsprechende Rennen aber nicht gewonnen?»
Klar gibt es solche Fälle, allerdings waren es in 70 Jahren Formel-1-WM nur ganze sieben Sieger, die im gleichen Grand Prix nie in Führung lagen:
Luigi Fagioli in Frankreich 1951: Sein Auto wurde von Juan Manuel Fangio übernommen.
Luigi Musso in Argentinien 1956: Auch sein Renner wurde vom argentinischen Champion übernommen.
Das Tragische für Fagioli und Musso: Für sie war es der einzige Sieg in der Formel-1-WM.
Tony Brooks in Grossbritannien 1957: Er teilte sich mit Stirling Moss den Wagen (und nachher den Lorbeerkranz, wie unser Foto zeigt).
Niki Lauda in Italien 1978: Die vor ihm platzierten Mario Andretti und Gilles Villeneuve erhielten Zeitstrafen wegen Frühstarts.
Alain Prost in Brasilien 1982: Nelson Piquet und Keke Rosberg wurden wegen untergewichtiger Autos aus der Wertung genommen.
Elio de Angelis in San Marino 1985: Auch der Wagen des vermeintlichen Siegers Alain Prost war untergewichtig.
Damon Hill in Belgien 1994: Michael Schumacher wurde wegen zu stark abgeschliffener Bodenplatte disqualifiziert.
Wie sieht es im umgekehrten Fall? Wer ging als Erster über die Ziellinie, konnte den Sieg aber nicht behalten?
Howden Ganley in Kanada 1973: Eine Reihe von Boxenstopps bei misslichem Wetter brachte die Rundentabellen komplett durcheinander. Ganley ist bis heute überzeugt, dass er gewonnen hat. Die Offiziellen sahen das anders und erklärten McLaren-Fahrer Peter Revson zum Sieger. Ganley wurde letztlich nur als Sechster gewertet.
James Hunt in Grossbritannien 1976: Der Sieg wurde ihm wegen eines illegalen Heckflügels aberkannt, Niki Lauda profitierte.
Mario Andretti in Italien 1978: Der Lotus-Star zeigte einen Frühstart und erhielt eine 60-Sekunden-Strafe, Niki Lauda erhielt den Sieg zugesprochen.
Didier Pironi in Kanada 1980: 60-Sekunden-Strafe wegen Frühstarts, Alan Jones gewann.
Nelson Piquet in Brasilien 1982: Der Brabham des Brasilianers wurde als untergewichtig eingestuft, der Sieg ging an Alain Prost.
Alain Prost in San Marino 1985: Ausgleichende Gerechtigkeit – dieses Mal war der McLaren von Prost zu leicht, und Elio de Angelis erhielt den ersten Platz.
Nelson Piquet in Mexiko 1987: Wegen des Unfalls von Derek Warwick wurde das Rennen abgebrochen und später wieder gestartet. Die beiden Läufe wurden zusammengezählt. Piquet kreuzte die Ziellinie als Erster, aber bei der Addition der zwei Rennteile hatte sein Williams-Stallgefährte Nigel Mansell die Nase vorn.
Ayrton Senna in Japan 1989: Der Brasilianer wurde nach dem Rennen disqualifiziert, weil er gemäss den Rennkommissaren bei der Kollision unerlaubt einen Notausgang der Suzuka-Bahn benutzt hatte. Der neue Sieger hiess Alessandro Nannini.
Gerhard Berger in Kanada 1990: Auch hier setzte es eine 60-Sekunden-Zeitstrafe wegen Frühstarts, Senna siegte.
Michael Schumacher in Belgien 1994: Bei einem Ritt über einen Randstein wurde die Bodenplatte seines Benettons abgeschliffen, die Kommissare berieten bis abends um 22.00 Uhr, dann warfen sie den Deutschen aus der Wertung. Damon Hill sagte thank you.
Kimi Räikkönen in Brasilien 2003: Als wegen des Unfalls von Fernando Alonso nach 56 Runden abgebrochen wurde, erklärten die Brasilianer den Finnen zum Sieger. Aber das war falsch, denn zum Zeitpunkt des korrekt gewerteten Rennschlusses (54 Runden) lag Giancarlo Fisichella in Führung.
Lewis Hamilton in Belgien 2008: Der damalige McLaren-Star erhielt eine Zeitstrafe von 25 Sekunden, weil er in der Schikane abgekürzt hatte. Der neue Sieger war Felipe Massa im Ferrari.
Sonderfall Michael Schumacher
Michael Schumacher und seine Ferrari-Truppe waren mit allen Wassern gewaschen. Zur Trickkiste von Schumi, Jean Todt, Ross Brawn & Co. gehörte auch ein Grand-Prix-Sieg – in der Boxengasse!
Unfassbare 91 Grand-Prix-Siege hat Michael Schumacher im Laufe seiner grandiosen Karriere errungen, aber vielleicht war sein Triumph am 12. Juli 1998 in Silverstone von allen der skurrilste. Denn Schumis Sieg stand fest, während der damalige Ferrari-Superstar in der Boxengasse stand. Und das kam so.
Der Anfang für das höchste ungewöhnliche Ende des Rennens lag in Runde 43: Michael Schumacher ging mit seinem Ferrari am Benetton-Piloten Alexander Wurz vorbei. Leider kreuzte der deutsche Star dabei eine gelbe Flagge. Die Rennleitung war zu diesem Zeitpunkt mit Wetterbeobachtung beschäftigt – eine Runde später musste das Safety-Car auf die Bahn geschickt werden, weil es so stark zu schütten begonnen hatte. Daher verstrichen gut zwanzig Minuten, bis man sich Schumis Vergehen anschauen konnte.
Um 15.46 Uhr, oder zwei Runden vor Schluss des Traditions-GP, wurde Ferrari darüber informiert, dass Michael Schumacher eine 10-Sekunden-Strafe erhält. Aber die Rennleitung patzte. Der handgeschriebene (!) Zettel wurde dem Ferrari-Kommandostand nicht nur zu spät überreicht (die Information über eine Strafe hätte innerhalb von 25 Minuten überreicht werden müssen), sie war auch wischiwaschi formuliert – ob diese zehn Sekunden noch während des Rennens abgesessen werden müssen oder ob sie auf Schumis Rennzeit hinzugerechnet werden, das ging daraus nicht klar hervor.
Ferrari-Rennchef Jean Todt (heute FIA-Präsident) holte Schumacher nach Absprache über Funk in der letzten Rennrunde an die Box. Die Start/Ziel-Linie befand sich jedoch vor jener Höhe, auf welcher die Ferrari-Box angeordnet war. Als Schumi also seine Strafe absass, war das Rennen de facto zu Ende, obschon dem Deutschen keine karierte Flagge gezeigt worden war. Den Rennkomissaren blieb jetzt nichts Anderes übrig, als die zehn Sekunden auf Michaels Rennzeit zu addieren.
Da Schumi jedoch 22 Sekunden vor Mika Häkkinen lag, war er auch im Stillstand Sieger – was ihm beim normalen Absitzen der Strafe während des Rennens kaum gelungen wäre. Schlitzohriger als von Ferrari ist das nicht zu lösen. Schumi und sein Team hatten eine Einladung erhalten, die sie gerne annahmen.
Der Fall hatte beim Autoverband FIA ein Nachspiel auf zwei Ebenen: Nazir Hoosein (Indien), Roger Peart (Kanada) und Howard Lapsley mussten ihre Rennkommissarenlizenz abgeben (wurden aber später begnadigt). Der exakte Ablauf der Definition einer Strafe und ihrer Überbringung wurde daraufhin geändert – von da an lief alles über Formel-1-Rennleter Charlie Whiting, der die Infos den Teams elektronisch zum Kommandostand schickt, bis heute.