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Covid-19 in Vietnam: Ist niedrigen Zahlen zu trauen?

Von Mathias Brunner
Die Rennanlage in Hanoi dürfte auf Monate verwaist bleiben

Die Rennanlage in Hanoi dürfte auf Monate verwaist bleiben

​Am 5. April sollte der erste Formel-1-GP von Vietnam stattfinden. Wann es nun einen WM-Lauf geben wird, weiss keiner. Die Covid-19-Zahlen sind auffallend gering. Aber ist diesen Zahlen zu trauen?

Der vietnamesische Premierminister Nguyen Yuan Phuc hat am 31. März weitreichende Ausgangsbeschränkungen eingeführt: Für die kommenden 15 Tage dürfen mehr als 95 Millionen Menschen nur noch dann vor die Tür, wenn sie Lebensmittel kaufen oder zum Arzt oder Apotheker gehen müssen. Wer sich draussen aufhält, muss eine Mindestdistanz von zwei Metern zum nächsten Mitbürger beachten. Mehr als zwei Menschen dürfen nicht beisammenstehen.

Diese Massnahmen stehen im Widerspruch zu den verblüffend niedrigen Zahlen in Sachen Covid-19-Erkrankungen. Vietnam spricht von 204 Fällen, die Statistiker von Worldometers von 207. Verstorben ist an der Lungenkrankheit offiziell keiner.

Damit steht Vietnam viel besser da als die meisten jener Länder, in welchen Formel-1-Rennen stattfinden sollten. Der erste Grosse Preis von Vietnam hätte am 5. April gefahren werden sollen, er ist wie so mancher anderer Grand Prix auf unbestimmte Zeit verschoben und soll im Spätsommer und Herbst nachgeholt werden.

Aber wieso diese Massnahme der kommunistischen Regierung, wenn es so wenige Krankheitsfälle gibt? Als Erklärung wird angegeben, dass viele vietnamesische Staatsbürger noch im Ausland unterwegs gewesen sind. Zudem seien noch vor der Einreisesperre viele Ausländer ins Land gekommen, auf der Flucht aus Europa. Die Vietnamesen sprechen in diesem Zusammenhang von «der zweiten Welle», die erste Welle war ein Aufkommen der Krankheit im Januar, als Covid-19 in China wütete.

Was dennoch auffällt: Trotz der geographischen Nähe zu China ist der Pandemieverlauf in Ländern wie Taiwan, Singapur, Südkorea oder Vietnam weniger explosiv als in Europa oder in den USA.

Einer der Gründe: Asiatische Länder mussten in den letzten zwanzig Jahren mehrmals gegen Seuchen ankämpfen – SARS 2003, die Schweinegrippe 2009/2010, MERS 2015. Daraufhin modernisierten zahlreiche asiatische Länder ihre Krisenpläne für solche Epidemien, es wurde mehr Geld in die Forschung gepumpt, es kam zu einem Austausch zwischen den betroffenen Regierungsbehörden.

Vietnam informierte überaus aktiv über die Bedrohung durch SARS-CoV-2, eine Coronavirus-App wurde entwickelt, und als die ersten Fälle auftraten, wurde eine ganze Stadt schlicht abgeriegelt. Das ist in einem Land wie China oder Vietnam leichter als in Madrid oder Mailand oder New York.

Vietnam schloss die Grenze zu China (sie ist 1100 Kilometer lang), Flüge nach Südkorea und China wurden gestrichen, Schüler in mehr als sechzig Provinzen blieben zuhause. Die Testkapazitäten wurden erhöht – das Risiko wurde korrekt eingeschätzt.

Heute bleiben die Grenzen für Ausländer geschlossen, mehr als 40.000 Vietnamesen befanden sich schon vor der nun verhängten Beschränkung in Quarantäne. Die Bürger sind angewiesen, ihren Gesundheitszustand zu melden, andernfalls drohen Strafen.

Premier Xuan Phuc verfiel in Kriegs-Rhetorik, aber die wirkt: «Diese Epidemie ist ein Feind, wir müssen ihn bekämpfen.»

Vietnam kann von Glück reden, dass die Massnahmen ziehen. Denn die Möglichkeiten der medizinischen Versorgung sind beschränkt. In Ho Chi Minh leben acht Millionen Menschen, aber Bürgermeister Nguyen Thanh Phong musste zugeben, dass es ganze 900 Intensivstations-Betten gibt.

Ausland-Vietnamesen, die regelmässig mit Verwandten telefonieren, stellen hinter die veröffentlichten Zahlen ein grosses Fragezeichen. Ein Hausarztmodell wie in unseren Breitengraden gibt es in Vietnam nicht. Werden die Menschen krank, gehen sie direkt ins Spital. Die öffentlichen Krankenhäuser haben einen schlechten Ruf, weil sie chronisch unterfinanziert und überlastet sind. Die meisten Vietnamesen können sich teure Privatkliniken nicht leisten. Dort ist Vorkasse nötig, um überhaupt eingelassen zu werden.

Ergebnis: Die Vietnamesen haben die Tendenz, nicht gleich wegen jedem Wehwehchen ins Spital zu gehen. Auch nicht, um sich auf Covid-19 testen zu lassen.

Unter Vietnamesen kursieren Videos, die Chinesen beim Überqueren der grünen Grenze nach Vietnam zeigen. Einige hundert sollen es in normalen Zeiten pro Tag sein. Als China stark unter dem Virus SARS-CoV-2 zu leiden begann, waren es täglich Tausende. Schwer vorstellbar, dass es vor diesem Hintergrund nicht zu mehr Erkrankungen gekommen sein soll.

Weil die Dunkelziffer an Covid-19-Fällen hoch sein dürfte, sprechen einige Vietnamesen im Vertrauen davon, auf einem Pulverfass zu sitzen, dessen Lunte brennt – aber keiner wisse, wie lang die Lunte sei.

Bis Ende April wollen die Vietnamesen zu so etwas wie Normalität zurückfinden. Aber wann ein Autorennen nachgeholt werden kann, das ist eine ganz andere Frage. Denn aus Regierungskreisen sickert durch: Einen sportlichen Grossanlass wird es erst dann geben, wenn Europa die Krise um ein, besser zwei Monate hinter sich hat.

Damit dürfte für die GP-Premiere in Hanoi bestenfalls ein Termin im Oktober oder November realistisch werden.

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