Unfall Jules Bianchi: Was sein Schicksal nun auslöst
Charlie Whiting, Jean Todt, Jean-Charles Piette und Ian Roberts von der FIA stehen Rede und Antwort
FIA-Präsident Jean Todt wird gerne eine gewisse Passivität unterstellt. In dringlichen Fragen der Formel 1 fiel der Franzose während seiner Amtszeit eher durch Zurückhaltung auf als durch Aktionismus. Aber der Unfall von Jules Bianchi ist zur Chefsache erklärt worden. Jean Todt sagt: «Ich will sicherstellen, dass wir so einen Unfall nie wieder erleben müssen.»
Trödelei können wir dem Autoverband wirklich nicht unterstellen. Nur wenige Stunden, nachdem der erste Bericht über die Unfallzusammenhänge vorlag, wurde in Sotschi eine Pressekonferenz angesetzt, um sich den wichtigsten Fragen der Weltpresse zu stellen. Wir könnten nicht behaupten, dass nach Ausflüchten gesucht wurde. Die Fragen wurden nach besten Wissen und Gewissen beantwortet.
Niemand kann das Geschehene rückgängig machen. «Der Unfall war wie der perfekte Sturm», sagt Charlie Whiting, der Sicherheitsdelegierte der Formel 1. Eine unglückliche Verkettung von verschiedenen Umständen, genauer: von sieben Faktoren.
Faktor 1: Die Wetterverhältnisse mit zunehmendem Regen und rapide schlechter werdenden Sichtverhältnissen.
Faktor 2: Die Fahrer auf abgefahrerenen Reifen, kurz vor Schluss des Rennens.
Faktor 3: Der Ausrutscher von Adrian Sutil.
Faktor 4: Das Daherkommen des Bergetraktors, um Sutils Auto wegzuschleppen.
Faktor 5: Eine möglicherweise zu wenig verminderte Geschwindigkeit verschiedener Fahrer, darunter Jules Bianchi.
Faktor 6: Eine starke Reaktion auf das Ausbrechen des Autos des Franzosen, worauf der Wagen nicht kreiselt, sondern geradeaus von der Bahn schiesst. Damit wir uns hier richtig verstehen: Es geht nicht um Schuldzuweisungen an den Piloten, es geht nur um nüchterne Feststellungen. Bianchi hat wie ein Racer instinktiv reagiert und war anschliessend nur noch Passagier.
Faktor 7: Der unfassbare Zufall, dass Bianchi genau das Bergefahrzeug trifft.
Nachher spielt es keine Rolle mehr, ob der Marussia-Fahrer mit Heli oder Ambulanz abtransportiert wurde, das hätte am Zustand des Rennfahrers nichts geändert. Rennarzt Ian Roberts: «Der Zustand vom Patienten war in seiner Ernsthaftigkeit von der Erstversorgung bis ins Spital unverändert.»
Kurz-, mittel- und langfristige Lehren
Schon morgen treffen sich FIA-Vertreter mit den den Team-Managern der Rennställe. Es geht um die Umsetzung eines Tempolimit in Unfallzonen wie bei jener von Sutil. Was es am Nürburgring und in Le Mans bei Langstreckenrennen längst gibt, würde auch für die Formel 1 Sinn machen: Eine Unfallstelle ist mit einer bestimmten Geschwindigkeit zu passieren. Eine solche Lösung würde aber erst 2015 eingeführt.
Der prinzipielle Einsatz von Bergefahrzeugen ist nicht im Frage gestellt, Kräne rund um eine Rennstrecke zu platzieren (von hinter den Leitschienen aus arbeitend), das ist einfach nicht realistisch. Es wird jedoch geprüft, ob diese Bergefahrzeug nicht eine Art Schürze haben sollten, um einen daherschiessenden Wagen abprallen zu lassen. Solche Schürzen gibt es bereits bei Lastwagen, um bei einem Verkehrsunfall zu verhindern, dass Autos unter den Lkw dringen.
Mit sofortiger Wirkung wird der Einsatz solcher Bergefahrzeug nur unter grössten Sicherheitsmassnahmen vollzogen. Bei ähnlichen Situation werden wir im Training mehr Unterbrechungen erleben und im Rennen eine Neutralisation.
Die Forschung in Sachen besserer Schutz des Fahrerkopfs geht weiter. Geprüft wird in jede Richtung, auch geschlossene Autos sind kein Tabu. Die Einführung einer solchen Lösung wird jedoch nicht auf die Schnelle passieren. Auch die Helme werden zusehens widerstandsfähiger, aber kein Helm der Welt hätte Bianchi bei dieser Art Unfall vor einer schweren Verletzung bewahren können.
Schlusswort von FIA-Chef Jean Todt: «So einen Unfall wie mit Jules Bianchi wollen wir nie wieder sehen. Aber jedem muss klar sein – Motorsport bleibt gefährlich. Wir müssen aus diesem tragischen Vorfall unsere Lehren ziehen, wir müssen weiter unermüdlich an der Sicherheit feilen. Totale Sicherheit jedoch, das wird es nie geben.»