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Jorge Lorenzo: War Rücktritt nur Etikettenschwindel?

Von Günther Wiesinger
Die Yamaha mit der #99 steht bereit in Sepang

Die Yamaha mit der #99 steht bereit in Sepang

Der dreifache MotoGP-Weltmeister Jorge Lorenzo trat vor knapp drei Monaten zurück. Dann machte er einen rhetorischen Salto rückwärts. Jetzt stehen bereits Wildcard-Rennen zur Debatte.

117 Tage. So viel Zeit ist seit dem MotoGP-Finale am 13. November 2016 in Valencia verstrichen, wenn Jorge Lorenzo (32) heute nach seiner dreijährigen Wanderschaft wieder ins Yamaha Motor Racing Team zurückkehrt, für das er 2010, 2012 und 2015 die MotoGP-WM und nach 2008 nicht weniger als 44 Grand Prix gewonnen hat. Fast drei Jahre und drei Monate lang rackerte sich der Mallorquiner nach dem Weggang bei Yamaha mit der Ducati Desmosedici und der Honda RC213V ab. Immerhin hat er in diesen drei Jahren ca. 30 bis 35 Millionen Euro verdient.

Aber Lorenzo hat schwere Zeiten hinter sich. Er hat sich im Juni 2019 zwei Brustwirbel gebrochen und nachher nie mehr zu seiner Form gefunden. Er hat 2019 bei Repsol-Honda keinen Top-Ten-Platz erreicht, er ist von Marc Márquez zermürbt worden. Er wirkte oft ratlos und musste einsehen, dass ein Leben an der Seite des Serien-Weltmeisters und HRC-Liebkinds wahrlich kein Honiglecken ist. Honda unternahm keine großen Anstrengungen, das Bike für seinen Geschmack umzubauen. Denn Márquez gewann ein Rennen nach dem andern.

Jorge ist der Tretmühle HRC entkommen, indem er nach seinem Comeback im August in Silverstone nicht mehr übertrieben viel Motivation und Kampfgeist an den Tag gelegt hat. «In Misano will ich weniger als 30 Sekunden auf den Sieger verlieren», sagte er nach dem British Grand Prix, den er mit 56,6 sec Rückstand auf Platz 14 beendete.

Aber er verlor auch in Misano 47,2 Sekunden – und kam über Rang 14 auch dort nicht hinaus.

Von diesem Zeitpunkt an wurde nur noch über die Art und Weise der Vertragsauflösung für 2020 verhandelt. Denn Jorge kassierte in sieben Grand Prix nur sechs Punkte ein. Trotzdem hielt er an Durchhalteparolen fest: «In meinem Kopf existiert die ‚Ich gebe auf’-Möglichkeit nicht. Jorge bekräftigte immer wieder, dass er seinen bis Ende 2020 laufenden Vertrag mit Repsol Honda erfüllen wolle. Vermutlich bis ihm HRC den vorzeitigen Abgang mit einem schönen Teil der Jahresgage 2020 versüßte.

Jorge Lorenzo gab dann am Donnerstag in Valencia seinen vermeintlichen MotoGP-Rücktritt bekannt. An diesem Tag deutete nicht viel auf eine baldige Rückkehr hin.

Aber der Spanier hat sein schauspielerisches Talent schon in der Vergangenheit manchmal aufblitzen lassen. Und deshalb war es kein großes Wunder, als bereits im Dezember klar wurde: Lorenzo verhandelt mit Yamaha über einen Testfahrer-Vertrag.

Vielleicht war dieser Deal bereits im September eingefädelt worden, als Yamaha kurz mit Johann Zarco liebäugelte, ihm dann daher eine knappe Entscheidungsfrist für Anfang Oktober stellte. Eventuell stand damals bereits die Variante Lorenzo auf der Tagesordnung.

Irgendwann wird die Wahrheit ans Tageslicht kommen.

Beim Valencia-GP wurde so ein Szenario auf jeden Fall noch glänzend vertuscht. Heute haftet dem Rücktritt ein Hauch von Scheinheiligkeit an.

Valencia: Rücktritt schien endgültig

Jorge Lorenzo sprach beim Valencia-GP bei seiner Donnerstag-Pressekonferenz so, als sei es ein Abschied für immer. «Ich habe immer gedacht, dass es im Leben eines Rennfahrers vier bedeutende Tage gibt: Der erste ist dein erstes Rennen, der zweite ist dein erster Sieg, dann der erste WM-Titel – nicht jeder schafft das, aber manche von uns erreichen es – und dann der Tag des Rücktritts. Ich bin heute hier, um zu verkünden, dass dieser Tag für mich gekommen ist», erklärte Lorenzo und erntete einen lang anhaltenden Applaus von seinen Rennfahrerkollegen, von Wegbegleitern, Verantwortlichen und Medienvertretern. «Das wird mein letztes Rennen in der MotoGP sein, dann werde ich mich als professioneller Rennfahrer zur Ruhe setzen», ergänzte er.

Inzwischen ist schon wieder von Wildcard-Einsätzen für Yamaha in der Saison 2020 die Rede. Maximal drei Grand Prix in einem Jahr dürfte Jorge als Testfahrer bestreiten.

Yamaha-Teammanager Massimo Meregalli kündigte schon im Oktober 2019 an, man plane für 2020 mit dem MotoGP-Testteam auch einzelne Renneinsätze. «Zumindest einen», sagt er.

«Wenn man so schwer verletzt ist, macht man sich Gedanken über sein Leben und seine Karriere», räumte Lorenzo im August in England ein.

Aber schon zum Jahreswechsel postete er Bilder von seinem Waschbrettbauch. Er ließ durchblicken, dass er sich auf eine weitere MotoGP-Herausforderung vorbereite.

Nach 297 Grand Prix und 18 Jahren in der Motorrad-WM ist also bei Lorenzo längst noch nicht Feierabend: Der fünffache Weltmeister (2010, 2012 und 2015 in der MotoGP-Klasse sowie 2006 und 2007 in der 250er-Klasse) hat in seiner Karriere 68 GP-Siege gefeiert, er stand insgesamt 152 Mal auf dem Podest.

Jorge hat mit dem GP-Sport noch eine Rechnung offen. Er hat hier noch ein paar Geschäfte zu erledigen. Der Superstar will nicht als Verlierer abtreten.

Er will vor allem Honda und Marc Márquez etwas beweisen.

Lorenzo ist zu stolz

Deshalb scheint alles möglich. Jorge Lorenzo ist zu ehrgeizig und zu stolz, um mit 32 Jahren für den Rest seines Lebens ein Dasein als Yamaha-Testfahrer zu fristen. Er hat in den letzten drei Jahren zwei Fremdfabrikate kennengelernt und kann Yamaha wertvollen Input liefern.

Vielleicht heuert er für 2021 wieder als Stammfahrer an. Wenn Rossi weiterfährt, könnte er bei Petronas-Yamaha Teamkollege des Italieners werden, der schon 2008, 2009, 2010, 2013, 2014, 2015 und 2016 im Yamaha-Werksteam sein Teamkollege war.

Im Monster Yamaha-Werksteam sind bekanntlich für 2021 und 2022 Maverick Viñales und Fabio Quartararo gesetzt.

Wir wissen aber auch, dass Ducati-Renndirektor Gigi Dall’Igna ein Bewunderer von Jorge Lorenzo ist. Vorübergehend wurde sogar im Juli und August 2019 schon über eine Rückkehr für 2020 diskutiert. Die Ducati-Verantwortlichen überlegten, ob man Lorenzo statt Jack Miller für 2020 zu Pramac-Ducati transferieren könnte. Aber unter dieser Voraussetzung erteilte HRC keine Freigabe.

Vielleicht wurde deshalb im Herbst ein Rücktritt vorgegaukelt – und dann der Yamaha-Vertrag besiegelt?

Wie auch immer. Jorge Lorenzo stehen jetzt einige Wege offen.

Er könnte Yamaha-Testfahrer bleiben, er könnte 2021 eventuell bei Petronas-Yamaha fahren – oder statt Andrea Dovizioso oder Danilo Petrucci ins Ducati-Werksteam zurückkehren.

Es ist unbestritten: Die Tranfersaison 2020 wird genauso spannend wie die Rennsaison.

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