Honda im Dilemma: Wie lange fällt Marc Márquez aus?
Marc Márquez beim Sieg in Texas: Sehen wir ihn noch einmal ganz oben auf dem Podest?
Die neuerliche Verletzungspause von Marc Márquez trifft die HRC-Verantwortlichen der Honda Racing Corporation von Takeo Yokoyama (Technical Director) über HRC-Direktor Tetsuhiro Kuwata bis zu Teamprinzipal Alberto Puig zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Denn nach mehr als einem Jahr mit Operationen und Knochentransplantationen und im Wochenrhythmus verschobenen Comeback-Terminen hatte der Honda-Superstar drei Rennen gewonnen und bei den vier Grands Prix vor seinem Offroad-Crash 83 von 100 möglichen Punkten einkassiert, Quartararo 66, Bagnaia 61.
Marc Márquez sollte die endlich wieder konkurrenzfähig gewordene Honda RC213V bei den letzten zwei Rennen noch weiter optimieren und dann am 18./19. November beim IRTA-Test in Jerez beim 2022-Prototyp die Richtung vorgehen.
Jetzt herrscht bei HRC düstere Stimmung, Ungewissheit hat sich breit gemacht. Denn mit den Nachwirkungen der Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen, zumal ein Sehnerv neuerlich beschädigt ist, der bei Marc Márquez schon 2011 die Teilnahme an den letzten zwei Moto2-Rennen in Sepang und Valencia verhinderte und ihn damals vom Sepang-Crash am 14. Oktober bis zum Saisonstart am 8. April 2012 in Katar matt setzte.
Marc Márquez büßt jetzt mit einem geschundenen Körper für seine extrem riskante Fahrweise mit bis zu 35 Stürzen und vielen «Saves» im Jahr, die lange Zeit heftig beklatscht wurden.
Lange Zeit ging alles gut.
Marc Márquez fightete 2013 in Silverstone nach einem Crash im Warm-up samt Schulterluxation im Rennen gegen Jorge Lorenzo um den Sieg, als sei nichts gewesen. Er stieg in Mugello 2013 nach einem 338-km/h-FP1-Sturz auf der Zielgeraden mit einer kleinen Schramme im FP2 grinsend wieder aufs Motorrad und wischte diesen Zwischenfall belustigt weg.
Der Spanier erwies sich als Stehaufmännchen, bei dem sich Genie und Wahnsinn in bunter Folge abwechselten.
Wir erinnern uns auch an merkwürdige «Black Outs» von Marc Márquez, der schon in der Moto2 wegen «unverantwortlicher Fahrweise» zweimal auf den letzten Startplatz verbannt wurde.
So wurde der achtfache Weltmeister 2013 in Phillip Island mit der schwarzen Flagge gestoppt, weil er den vorgeschriebenen Pflichtstopp zum Reifenwechsel nicht erledigt hatte. In Argentinien 2018 fuhr Marc wie von allen guten Geistern verlassen. Das Ergebnis: Drei Penaltys innerhalb von 40 Rennminuten. Einsamer Rekord.
Wer erwartet hatte, Marc Márquez würde nach seiner neunmonatigen Verletzungspause in Portugal 2021 geläutert zurückkehren, wurde bald einen Besseren belehrt. Der inzwischen 59-fache MotoGP-Sieger warf sich gleich beim ersten Rennen wild und entschlossen ins Getümmel, obwohl er sichtbar nicht Herr der Lage war und am Ende auf Platz 7 zurückfiel.
Marc betonte auch regelmäßig, dass er seine Rennstrategie nach der Devise «Alles oder nichts» nicht ändern werde. Das führte zu drei Rennstürzen hintereinander in Le Mans, Mugello und Catalunya, auch in Spielberg-2 (er fuhr im Regen trotzdem auf Platz 15) und Silverstone landete er auf dem Hosenboden, in England gleich in der ersten Runde. Die Honda-Manager hielten sich mit Kritik zurück.
Diese Warnschüsse wurden nicht gehört, offenbar auch bei Honda nicht.
Vielleicht hätte man die Saison 2021 in erster Linie als Aufbautraining für 2022 betrachten sollen, zumal Marc auf die ersten zwei Grand Prix ohnedies verzichtet hatte und nie eine Titelchance bestand.
Man muss davon ausgehen, dass Marc auch bei den Wintertests fehlen wird. Ein halbwegs ebenbürtiger Ersatzfahrer ist natürlich nicht in Sicht.
Deshalb rauchen bei HRC die Köpfe.
Es werden gewiss viele Szenarien durchgespielt. Honda besitzt die Verträge für die LCR-Honda-Piloten Alex Márquez und Takaaki Nakagami. Alex Márquez könnte ins Repsol-Team zurückgeholt werden, Iker Lecuona (21) statt ins Honda-Superbike-Team zu LCR transferiert werden.
Danilo Petrucci ist bisher bei KTM nur für die Dakar-Rallye unter Vertrag, er könnte nach dem 14. Januar wieder MotoGP fahren oder die Superbike-WM einsteigen.
Wie gesagt: Das sind alles Spekulationen, aber sie müssen angestellt werden. Denn Honda kann sich nicht auf eine wundersame Genesung von Marc verlassen. Es muss wohl Schadensbegrenzung betrieben werden. Vierte oder fünfte Plätze in der Konstrukteurs-WM sieht bei Honda niemand gerne.
Honda: Keine Nachwuchsförderung
Honda bekommt jetzt die Quittung für die jahrelang vernachlässigte oder unprofessionell betriebene Nachwuchsförderung, die wenig auffiel, weil Marc Márquez alle diese Mängel durch Seriensiege übertünchte. Er gewann 2019 zwölf von 19 Rennen und wurde sechsmal Zweiter!
Dass Cal Crutchlow damals als zweitbester Honda-Fahrer 287 Punkte weniger kassierte, wurde bei HRC unter den Tisch gekehrt.
Erst in diesem Jahr wurde bei Honda begonnen, das MotoGP-Bike nicht allein auf Marc Márquez maßzuschneidern. Es gibt jetzt für jeden Fahrer eine «customized»-Version für den individuellen Geschmack.
Seither fühlt sich auch Pol Espargaró sichtlich wohler, der im Frühjahr noch oft am Verzweifeln war.
Trotzdem darf man die Frage stellen, warum es Honda als weltgrößter Motorradhersteller nicht geschafft hat, ehemalige Honda-Asse wie Jack Miller, Joan Mir, Alex Rins, Enea Bastianini und Franco Morbidelli irgendwo bei der Stange zu halten. Die Japaner hielten lieber am bald 30-jährigen Nagakami fest, der in vier MotoGP-Jahren noch keinen Podestplatz zustande gebracht hat.
Marc Márquez ist WM-Sechster, Pol Espargaró liegt in der WM an zehnter Position, Nakagami und Alex Márquez finden wir nur auf den WM-Rängen 15 und 16. Da steht sogar Suzuki mit nur zwei Piloten besser da.
«Ich hoffe und glaube, dass sich Marc im Winter erholen wird», sagte LCR-Teambesitzer Lucio Cecchinello gestern gegenüber SPEEDWEEK.com.
Das hoffen wir alle im Sinne einer spannenden Meisterschaft, denn nach Valentino Rossi wäre der Verlust eines weiteren MotoGP-Superstars schwer zu verkraften.
Wir werden damit leben müssen, dass Honda auch in den nächsten Monaten nur scheibchenweise mit der Wahrheit zum Zustand von Marc Márquez herausrückt. Daran wollen wir uns aber auch zehn Jahre nach dem Sepang-Moto2-Crash nicht gewöhnen.
Momentan können auch die Ärzte keine wasserdichte Prognose zur Doppelsichtigkeit von Márquez abgeben.
Alles ist möglich, vom verspäteten Saisonbeginn 2022 bis zu einem Jahr Pause und auch die Rücktrittsgerüchte werden vorläufig nicht verstummen, auch wenn ein Vertrag bis Ende 2024 existiert.
Stand Fahrer-WM nach 17 von 18 Rennen:
1. Quartararo, 267 Punkte (Weltmeister). 2. Bagnaia 227. 3. Mir 195. 4. Miller 165. 5. Zarco 163. 6. Marc Márquez 142. 7. Binder 142. 8. Aleix Espargaró 113. 9. Viñales 106. 10. Pol Espargaró 100. 11. Rins 99. 12. Bastianini 94. 13. Oliveira 92. 14. Martin 91. 15. Nakagami 76. 16. Alex Márquez 67. 17. Morbidelli 42. 18. Marini 41. 19. Lecuona 38. 20. Rossi 38. 21. Petrucci 37. 22. Bradl 14. 23. Pirro 12. 24. Dovizioso 8. 25. Pedrosa 6. 26. Savadori 4. 27. Rabat 1.
Konstrukteurs-WM:
1. Ducati, 332 Punkte (Weltmeister). 2. Yamaha 298. 3. Suzuki 227. 4. Honda 211. 5. KTM 196. 6. Aprilia 114.
Team-WM:
1. Ducati Lenovo, 392 Punkte. 2. Monster Energy Yamaha 364. 3. Suzuki Ecstar 294. 4. Pramac Racing 258. 5. Repsol Honda 250. 6. Red Bull KTM Factory Racing 234. 7. LCR Honda 143. 8. Esponsorama Racing 135. 9. Aprilia Racing Team Gresini 128. 10. Petronas Yamaha SRT 86. 11. Tech3 KTM Factory Racing 75.