Einheits-Elektronik: Ducati als grosser Nutzniesser?
Ducati-Werkspilot Andrea Iannone: Vorteil dank Knowhow der Japaner?
Seit drei Jahren rüstet Magneti Marelli in der MotoGP-Weltmeisterschaft die Open-Class-Teams mit der Einheits-Elektronik aus. 2016 müssen erstmals auch alle Factory-Fahrer mit dieser einheitlichen Motorsteuerung abmühen.
Die Fahrer klagten bei den Tests im November über die instabile, langsame ECU (electronic control unit). Valentino Rossi sprach sogar von einem technologischen Rückschritt ins Jahr 2008. Dani Pedrosa stimmte zu.
Die HRC-Fahrer hatten jedenfalls ernsthafte Probleme, den neuen 2016-Motor auf Herz und Nieren zu prüfen, weil die bisherige Factory-Elektronik von HRC deutlich fortschrittlicher war und deshalb keine seriösen Vergleiche zustande kamen.
Dorna-Chef Carmelo Ezpeleta beteuerte, man habe nie in Aussicht gestellt, dass diese Einheits-ECU auf Anhieb auf dem hohen Niveau der Factory-Software von Honda oder Yamaha sein würde.
Und Corrado Cecchinelli, Director of Technology bei der Dorna, kündigte Updates bis zum ersten Sepang-Test (1. bis 3. Februar) an. Bis zum Saisonstart am 20. März sollen weitere elektronische Verbesserungen geliefert werden.
Die Teams, Elektronik-Spezialisten und Fahrer sind skeptisch.
Die ECU sei erwartungsgemäss auf einen niedrigen Level, die ECU sei vom kaufmännischen Standpunkt aus ein Desaster, heisst es, und vom politischen Standpunkt aus sei dieses Konzept eine Riesenfrechheit. Das ist das niederschmetternde Resümee, wenn man sich bei den Beteiligten umhört.
Ursprünglich machte die Überlegung, den Werken und Teams eine einheitliche Software zur Verfügung hinzustellen, durchaus Sinn.
Aber es war von Anfang an klar, dass Magneti Marelli nicht ausreichend Software-Knowhow auf dem Zweiradsektor hatte.
Tatsächlich erschienen die Italiener 2012 mit einer leeren Blackbox zum ersten Malaysia-Test. Die Claiming-Rule-Teams kamen damals kaum zum Fahren. Oder sie legten die unbrauchbaren elektronischen Systeme wie Traction Control und elektronische Motorbremse kurzerhand lahm.
Beschwerden der Open-Class-Fahrer
Dabei waren in erster Linie die Privatteams zuerst ganz entzückt von der Idee der Einheits-ECU.
Denn die Entwicklung der Software kostete die Werke viel Geld, diese Kosten wurden über die Leasinggebühren an die Teams weitergereicht, die Teams mussten Elektroniker ausbilden und die Manpower erhöhen, die neuen Funktionalitäten (wie Traction-Control) mussten fortwährend neu getestet werden.
Die ECU-Hardware ist nicht teuer, sie kostet zwischen 5000 und 10.000 Euro pro Exemplar und Motorrad. Aber die Erstellung und die Entwicklung der Software geht ins Geld.
Die Magneti Marelli-Techniker zeigten sich vom ersten Tag an überfordert. Die Open-Class-Fahrer beschwerten sich, aber niemand schenkte ihnen Gehör. Erst als Rossi und Co. mit diesem elektronischen Gerümpel in Berührung kamen, wurden die Factory-Teams hellhörig.
Stefan Bradl gehörte zu jenen MotoGP-Piloten, die das Unheil kommen sagen, er hatte sich bei Forward-Yamaha im ersten Halbjahr 2015 mit dieser ECU abgemüht.
Die Teams hatten sich immer gewundert, warum sich Marelli drei Jahre lang nicht einmal die Mühe gemacht hat, eigene Track-Tests abzuwickeln. Marelli verfügt nicht einmal über eine HIL, hat also keine «hardware in the Loop», mit der man das Motorradfahren auf der Strecke simulieren könnte. Als «Hardware in the Loop» wird eine Methode zum Testen und Absichern von eingebetteten Systemen bezeichnet, die die Grundlage für eine vorzeitige Inbetriebnahme solcher Motorsteuerungen bilden könnte. Alle Updates wurden einfach zu den Rennen geliefert, wo die Elektroniker der Open-Class-Teams in die Verzweiflung getrieben wurden. «Marelli testet nichts, sie simulieren höchstens ein bisschen, wenn es eine neue Version gibt, die dann natürlich in der Praxiserprobung nie funktioniert», bemängelt ein betroffener Elektroniker.
So bekamen die Open-Class-Teams beim ersten Sepang-Test im Februar 2015 eine neue, völlig unerprobte Version, die nicht so funktionierte, wie sich Marelli und die Teams das erwarteten.
Da die Open-Teams natürlich keine Testteams hatten, mussten alle Kinderkrankheiten in den offiziellen GP-Trainings erkannt und ausgemerzt werden. «Ohne alle diesen elektronischen Systeme wäre ich schneller, sie sind gefährlich«, schimpfte LCR-Honda-Pilot Jack Miller.
Die GP-Fahrer dienten als Versuchskaninchen, sie gingen für Marelli auf Fehlersuche. Irgendwann wurden die Mängel dann von Marelli behoben – bis beim nächsten Update der Jammer neuerlich seinen Anfang nahm.
Stefan Bradl wunderte sich über die Schwierigkeit, bei dieser Marelli-ECU das «corner by corner»-Set-up vernünftig hinzukriegen.
Die neuen Versionen wurden regelmässig von «bugs» heimgesucht, die Teamelektroniker mussten dann eine neue Bedatung finden und sie reinprogrammieren.
Immerhin sahen die Verantwortlichen von Honda und Yamaha bereits im April 2015 ein, dass sie ihren Stars diese hoffnungslose Elektronik für 2016 nicht zumuten konnten. Schliesslich vereinbarten Honda, Yamaha und Ducati, einen grossen Teil ihres Motorsteuerungs-Knowhow als Algorithmus an Marelli preiszugeben. Marelli sollte mit Hilfe dieses Algorithmus ein neues Programm schreiben.
Dadurch erhielt Magneti Marelli quasi eine Architektur-Zeichnung, die sie selbst in drei Jahren nicht annähernd zustande gebracht haben. Die Programmierung wurde von der Dorna bezahlt, Marelli spielt quasi nur den Dienstleister, profitiert aber vom Knowhow der Werke und lässt sich für die eigene zur Schau gestellte Unfähigkeit auch noch fürstlich honorieren.
Und dann beginnt der Kreislauf von vorne: Marelli testet nicht selber, sondern lässt die Fahrer der Hersteller herausfinden, ob die neue Version etwas taugt oder nicht.
Das heisst: Honda, Yamaha und Ducati haben die gleiche Arbeit wie bisher, aber sie nehmen einen riesigen Nachteil im Kauf: Sie dürfen das Software-Knowhow nicht mehr exklusiv hüten, sondern überlassen ihr ganzes Wissen Marelli, davon profitieren die Konkurrenten von Suzuki bis Ducati. Die Italiener von Marelli werden also irgendwann in ferner Zeit über die bestmögliche Zweirad-Elektronik verfügen und dieses Monopol jedem beliebigen Motorradwerk anbieten können.
Dazu kommt, dass sich jedes Rennmotorrad dynamisch anders verhält, jede Marke hat ein unterschiedliches Eigenleben, jedes Bike fühlt sich für den Fahrer anders an.
Genau so unterschiedlich sind die Schräglagen-Sensoren oder Sechs-Achs-Sensoren der Hersteller, die messen, ob das Motorrad ein Wheelie macht und in welchem Schräglagenwinkel es unterwegs ist. Auf diese kleinen Unterschiede sind die Kontroll-Algorithmen abgestimmt. Es geht hier um Filterfrequenzen, Zeitverschiebungen und so weiter.
Wenn die Werke diese Sensoren gegen einheitliche Sensoren austauschen müssen, stimmen sämtliche Einstellwerte nicht mehr überein. Deshalb forderten die Techniker von Honda und Yamaha im Juni, man möge ihnen das Weiterabeiten mit ihren eigenen Sensoren gestatten. Ducati plädierte hingegen für den Marelli-Sensor, denn dieser wurde von Ducati selbst entwickelt...
Dieses Thema ist weiter heftig umstritten. Denn die neuen Hersteller wie Suzuki, Aprilia und KTM wollen auf den Marelli-Sensoren beharren, damit Honda und Yamaha mit den eigenen Sensoren keinen Schwindel treiben können. Aber diese Befürchtungen der neuen Hersteller sind nach Meinung der Experten unbegründet: Denn der Yamaha-Sensor bekommt keine anderen Daten als der Marelli-Sensor.
Ducati profitiert durch Input der Japaner
Stefan Bradl stellte bei Aprilia jedenfalls aus Fahrersicht gleich im ersten Training in Indy fest, dass die hauseigene APX-Software der Italiener der beispielhaften Honda-Software in nichts nachsteht.
Deshalb zählt er nicht gerade zu den Befürwortern der Marelli-ECU – und ist damit in bester Gesellschaft.
Die elektronischen Spürhunde im MotoGP-Paddock sind der Ansicht, Ducati werde der grosse Nutzniesser der Einheits-Elektronik sein.
Denn durch den Input der Japaner hat sich die Motorsteuerungs-Basissoftware bei Marelli verbessert. Da geht es zum Beispiel um das Wissen, wie viel wird zum optimalen Zeitpunkt eingespritzt, wie sieht der ideale Zündzeitpunkt aus und wie wird eine elektronische Drosselklappe geregelt.
Deshalb liess Andrea Iannone nach den November-Tests verlauten, die neue Traction-Control sei fortschrittlicher als die Factory-Ducati-Version von 2015.
Ein Ärgernis für Honda und Yamaha, da sie ihre deutliche technologische Überlegenheit auf dem Gebiet der Motorsteuerung jetzt verlieren – und sie künftig mit Ducati teilen müssen.
Kein Wunder, wenn dem umstrittenen Dorna-Techniker Corrado Cecchinelli immer wieder sein Naheverhältnis zu Ducati vorgeworfen wird. Er ist ein ehemaliger Mitarbeiter des Herstellers aus Borgo Panigale.
Insider von Honda bezeichnen die Original-Ducati-Software und die ursprüngliche Marelli-Software als typisches italienisches Engineering, es wirkt verspielt, detailverliebt, die Funktionalität lässt stark zu wünschen übrig.
Das Fazit: Honda und Yamaha haben die Motorsteuerung mittlerweile auf saubere und solide Füsse gestellt. Es existiert zum Beispiel eine Drehmomentsteuerung, bei der ein Teamelektroniker rasch bei einer gewissen Drehzahl ein Newtonmeter wegnehmen oder ein halbes Newtonmeter dazugeben kann. Solche Schritte können bei jedem Motor jetzt so vorgenommen werden, wie sich ein professioneller Ingenieur das wünscht und vorstellt. Das Programmieren ist nicht mehr so verkünstelt wie 2015, jeder Motor läuft also grundsätzlich besser.
Aber es wird noch viel diskutiert. Denn KTM ist nicht der einzige Hersteller, der für einheitliche Sensoren ab 2017 plädiert.
Aber die Kosten wären geringer und die Ergebnisse besser, wenn Honda, Yamaha, Suzuki, Aprilia und alle andern weiterhin ihre eigene Software entwickeln und einsetzen könnten.
Und all diese neuen Software-Erkenntnisse könnten relativ zeitnah in die Elektronik der Strassenmotorräder einfliessen.
Denn im Gegensatz zur Formel 1 und DTM sind die Rennfahrzeuge in der MotoGP von der Dynamik und Technik her noch verhältnismässig nahe an den Top-Serienmotorrädern dran.